"keine einzelne feststehende, oder vielmehr als feststehend be- trachtete Form, sondern nur die Entwicklungsreihen können Gegen- stand einer botanischen Formenlehre seyn, jedes System, welches sich mit den herausgerissenen Formenverhältnissen dieses oder jenes Zeit- abschnittes ohne Berücksichtigung des Entwicklungsgesetzes beschäftigt, ist ein phantastisches Luftschloß, welches keinen Boden in der Wirklich- keit hat und gehört deshalb nicht der wissenschaftlichen Botanik an." --
Es kann hier nicht meine Aufgabe seyn, nunmehr unter Leitung jener Maximen alle einzelnen Sätze, welche die Morphologie bis jetzt gewonnen hat, oder doch gewonnen zu haben glaubt, aus den That- sachen der Beobachtung selbst zu entwickeln; es würde das nicht weni- ger heißen als eine ganze Botanik schreiben. Ich kann vielmehr hier nur einen Ueberblick über die ganze Pflanzenwelt nach ihren morpho- logischen Characteren skitzenhaft vorführen. --
Betrachten wir die Pflanzenwelt als ein Ganzes, als ein Indivi- duum, dessen verschiedene Lebens- und Entwicklungsstufen so neben einander vorliegen, wie sie bei der einzelnen Pflanze nach ein- ander folgen, so können wir die einfachsten Formen gleichsam als die Anfänge der Pflanzenwelt betrachten und finden dann, daß diese sich eben so wie die Einzelpflanze aus einer einfachen Zelle hervorbildet und entwickelt. Wo wir an alten feuchten Mauern und Bretterzäunen, an Gläsern, in denen wir zur Sommerszeit während mehrerer Tage weiches Wasser stehen ließen, einen zarten, schöngrünen, oft fast sammetartigen Anflug finden, da begegnen wir den ersten Anfängen der Vegetation. Unterm Microscop entdecken wir in diesen grünen Massen eine Menge kleiner, kugelrunder Zellen mit Saft, farblosen Körnchen und Chlorophyll erfüllt. -- An andern Orten finden sich ähnliche, gelbliche, braune, rothe Zellen, und fast alle darf man, wenigstens zur Zeit noch, als ganze vollständige Pflanzen ansehen, welche von den Botanikern mit verschiedenen Namen belegt sind. Die passendste Bezeichnung dafür ist Protococcus, Urbläschen. Von dieser einfachen als Pflanze selbstständig vegetirenden Zelle nimmt die Entwicklung der Pflanzenwelt ihren Ausgang und steigt durch
„keine einzelne feſtſtehende, oder vielmehr als feſtſtehend be- trachtete Form, ſondern nur die Entwicklungsreihen können Gegen- ſtand einer botaniſchen Formenlehre ſeyn, jedes Syſtem, welches ſich mit den herausgeriſſenen Formenverhältniſſen dieſes oder jenes Zeit- abſchnittes ohne Berückſichtigung des Entwicklungsgeſetzes beſchäftigt, iſt ein phantaſtiſches Luftſchloß, welches keinen Boden in der Wirklich- keit hat und gehört deshalb nicht der wiſſenſchaftlichen Botanik an.“ —
Es kann hier nicht meine Aufgabe ſeyn, nunmehr unter Leitung jener Maximen alle einzelnen Sätze, welche die Morphologie bis jetzt gewonnen hat, oder doch gewonnen zu haben glaubt, aus den That- ſachen der Beobachtung ſelbſt zu entwickeln; es würde das nicht weni- ger heißen als eine ganze Botanik ſchreiben. Ich kann vielmehr hier nur einen Ueberblick über die ganze Pflanzenwelt nach ihren morpho- logiſchen Characteren ſkitzenhaft vorführen. —
Betrachten wir die Pflanzenwelt als ein Ganzes, als ein Indivi- duum, deſſen verſchiedene Lebens- und Entwicklungsſtufen ſo neben einander vorliegen, wie ſie bei der einzelnen Pflanze nach ein- ander folgen, ſo können wir die einfachſten Formen gleichſam als die Anfänge der Pflanzenwelt betrachten und finden dann, daß dieſe ſich eben ſo wie die Einzelpflanze aus einer einfachen Zelle hervorbildet und entwickelt. Wo wir an alten feuchten Mauern und Bretterzäunen, an Gläſern, in denen wir zur Sommerszeit während mehrerer Tage weiches Waſſer ſtehen ließen, einen zarten, ſchöngrünen, oft faſt ſammetartigen Anflug finden, da begegnen wir den erſten Anfängen der Vegetation. Unterm Microſcop entdecken wir in dieſen grünen Maſſen eine Menge kleiner, kugelrunder Zellen mit Saft, farbloſen Körnchen und Chlorophyll erfüllt. — An andern Orten finden ſich ähnliche, gelbliche, braune, rothe Zellen, und faſt alle darf man, wenigſtens zur Zeit noch, als ganze vollſtändige Pflanzen anſehen, welche von den Botanikern mit verſchiedenen Namen belegt ſind. Die paſſendſte Bezeichnung dafür iſt Protococcus, Urbläschen. Von dieſer einfachen als Pflanze ſelbſtſtändig vegetirenden Zelle nimmt die Entwicklung der Pflanzenwelt ihren Ausgang und ſteigt durch
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„keine einzelne feſtſtehende, oder vielmehr als feſtſtehend be-
trachtete Form, ſondern nur die Entwicklungsreihen können Gegen-
ſtand einer botaniſchen Formenlehre ſeyn, jedes Syſtem, welches ſich
mit den herausgeriſſenen Formenverhältniſſen dieſes oder jenes Zeit-
abſchnittes ohne Berückſichtigung des Entwicklungsgeſetzes beſchäftigt,
iſt ein phantaſtiſches Luftſchloß, welches keinen Boden in der Wirklich-
keit hat und gehört deshalb nicht der wiſſenſchaftlichen Botanik an.“ —
Es kann hier nicht meine Aufgabe ſeyn, nunmehr unter Leitung
jener Maximen alle einzelnen Sätze, welche die Morphologie bis jetzt
gewonnen hat, oder doch gewonnen zu haben glaubt, aus den That-
ſachen der Beobachtung ſelbſt zu entwickeln; es würde das nicht weni-
ger heißen als eine ganze Botanik ſchreiben. Ich kann vielmehr hier
nur einen Ueberblick über die ganze Pflanzenwelt nach ihren morpho-
logiſchen Characteren ſkitzenhaft vorführen. —
Betrachten wir die Pflanzenwelt als ein Ganzes, als ein Indivi-
duum, deſſen verſchiedene Lebens- und Entwicklungsſtufen ſo neben
einander vorliegen, wie ſie bei der einzelnen Pflanze nach ein-
ander folgen, ſo können wir die einfachſten Formen gleichſam als die
Anfänge der Pflanzenwelt betrachten und finden dann, daß dieſe ſich
eben ſo wie die Einzelpflanze aus einer einfachen Zelle hervorbildet
und entwickelt. Wo wir an alten feuchten Mauern und Bretterzäunen,
an Gläſern, in denen wir zur Sommerszeit während mehrerer Tage
weiches Waſſer ſtehen ließen, einen zarten, ſchöngrünen, oft faſt
ſammetartigen Anflug finden, da begegnen wir den erſten Anfängen
der Vegetation. Unterm Microſcop entdecken wir in dieſen grünen
Maſſen eine Menge kleiner, kugelrunder Zellen mit Saft, farbloſen
Körnchen und Chlorophyll erfüllt. — An andern Orten finden ſich
ähnliche, gelbliche, braune, rothe Zellen, und faſt alle darf man,
wenigſtens zur Zeit noch, als ganze vollſtändige Pflanzen anſehen,
welche von den Botanikern mit verſchiedenen Namen belegt ſind. Die
paſſendſte Bezeichnung dafür iſt Protococcus, Urbläschen.
Von dieſer einfachen als Pflanze ſelbſtſtändig vegetirenden Zelle nimmt
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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/106>, abgerufen am 21.11.2024.
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