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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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Körpers setzt aber schon zum Voraus, daß er nach allen drei Rich-
tungen des Raumes, nach Länge, Breite und Tiefe ausgedehnt sey.
Eine bloße Linie oder Fläche sind keine Körper und daher keine Ge-
stalten und die einfachsten Beziehungen zum Raum geben uns daher
gar keinen Eintheilungsgrund. Zwar können auch bei einem Körper die
eine oder zwei Richtungen der Ausdehnung vorherrschen; wir unter-
scheiden einen Faden leicht von einem Blatte Papier nur nach diesen
Verhältnissen. Es liegt hier jedoch nur ein Mehr oder Minder, nicht
aber ein innerer wesentlicher Unterschied vor, wie es sich am Deut-
lichsten darin zeigt, daß da, wo eben die äußere Umgrenzung, die Ge-
stalt, zuerst in der Naturwissenschaft eine große Bedeutung gewinnt,
nämlich bei den Krystallen, ein und dieselbe Krystallform als lange
dünne Nadel, als ein kleines flaches Plättchen oder als ein nach
allen Dimensionen gleichförmig ausgedehnter Körper erscheinen kann.
Der in Pflanzen so häufig vorkommende krystallisirte sauerkleesaure
Kalk hat beständig in allen seinen Formen ein Quadrat zur Grund-
fläche, auf welcher sich eine quadratische Säule erhebt. Ist diese aber
sehr kurz, so liegt ein kleines viereckiges Plättchen vor, wird sie höher
so nähert sie sich allmälig immer mehr einer Würfelform; noch länger
geht sie über diesen hinaus und erscheint endlich als ein langes dünnes
Nadelchen fast fadenförmig, immer bleibt dabei aber die Krystallgestalt,
das Wesentliche der Form, völlig gleich, nämlich eine quadratische
Säule; ungefähr wie wir die gleiche menschliche Gestalt anerkennen,
mag der Mensch kurz und dick, oder sehr lang und schlank seyn. Der
Schluß, den wir gleich hieraus ziehen können ist der, daß wir aus
dem allgemeinen Begriff eines Körpers gar keine Merkmale ab-
leiten können, um die Gestalten zu unterscheiden und anzuord-
nen. Zwar lassen sich auf dem Papier in der Studirstube präch-
tige Systeme ausdenken, aber für die Wirklichkeit haben diese
gar keine Bedeutung. So wie wir an diese hinantreten, müssen
wir vielmehr bescheiden erst anfragen, ob die Natur geneigt sey
uns ihre Geheimnisse zu verrathen, ob sie in diesem oder jenem
einzelnen Falle uns offenbaren will, welche Merkmale sich bei

Körpers ſetzt aber ſchon zum Voraus, daß er nach allen drei Rich-
tungen des Raumes, nach Länge, Breite und Tiefe ausgedehnt ſey.
Eine bloße Linie oder Fläche ſind keine Körper und daher keine Ge-
ſtalten und die einfachſten Beziehungen zum Raum geben uns daher
gar keinen Eintheilungsgrund. Zwar können auch bei einem Körper die
eine oder zwei Richtungen der Ausdehnung vorherrſchen; wir unter-
ſcheiden einen Faden leicht von einem Blatte Papier nur nach dieſen
Verhältniſſen. Es liegt hier jedoch nur ein Mehr oder Minder, nicht
aber ein innerer weſentlicher Unterſchied vor, wie es ſich am Deut-
lichſten darin zeigt, daß da, wo eben die äußere Umgrenzung, die Ge-
ſtalt, zuerſt in der Naturwiſſenſchaft eine große Bedeutung gewinnt,
nämlich bei den Kryſtallen, ein und dieſelbe Kryſtallform als lange
dünne Nadel, als ein kleines flaches Plättchen oder als ein nach
allen Dimenſionen gleichförmig ausgedehnter Körper erſcheinen kann.
Der in Pflanzen ſo häufig vorkommende kryſtalliſirte ſauerkleeſaure
Kalk hat beſtändig in allen ſeinen Formen ein Quadrat zur Grund-
fläche, auf welcher ſich eine quadratiſche Säule erhebt. Iſt dieſe aber
ſehr kurz, ſo liegt ein kleines viereckiges Plättchen vor, wird ſie höher
ſo nähert ſie ſich allmälig immer mehr einer Würfelform; noch länger
geht ſie über dieſen hinaus und erſcheint endlich als ein langes dünnes
Nadelchen faſt fadenförmig, immer bleibt dabei aber die Kryſtallgeſtalt,
das Weſentliche der Form, völlig gleich, nämlich eine quadratiſche
Säule; ungefähr wie wir die gleiche menſchliche Geſtalt anerkennen,
mag der Menſch kurz und dick, oder ſehr lang und ſchlank ſeyn. Der
Schluß, den wir gleich hieraus ziehen können iſt der, daß wir aus
dem allgemeinen Begriff eines Körpers gar keine Merkmale ab-
leiten können, um die Geſtalten zu unterſcheiden und anzuord-
nen. Zwar laſſen ſich auf dem Papier in der Studirſtube präch-
tige Syſteme ausdenken, aber für die Wirklichkeit haben dieſe
gar keine Bedeutung. So wie wir an dieſe hinantreten, müſſen
wir vielmehr beſcheiden erſt anfragen, ob die Natur geneigt ſey
uns ihre Geheimniſſe zu verrathen, ob ſie in dieſem oder jenem
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[85/0101] Körpers ſetzt aber ſchon zum Voraus, daß er nach allen drei Rich- tungen des Raumes, nach Länge, Breite und Tiefe ausgedehnt ſey. Eine bloße Linie oder Fläche ſind keine Körper und daher keine Ge- ſtalten und die einfachſten Beziehungen zum Raum geben uns daher gar keinen Eintheilungsgrund. Zwar können auch bei einem Körper die eine oder zwei Richtungen der Ausdehnung vorherrſchen; wir unter- ſcheiden einen Faden leicht von einem Blatte Papier nur nach dieſen Verhältniſſen. Es liegt hier jedoch nur ein Mehr oder Minder, nicht aber ein innerer weſentlicher Unterſchied vor, wie es ſich am Deut- lichſten darin zeigt, daß da, wo eben die äußere Umgrenzung, die Ge- ſtalt, zuerſt in der Naturwiſſenſchaft eine große Bedeutung gewinnt, nämlich bei den Kryſtallen, ein und dieſelbe Kryſtallform als lange dünne Nadel, als ein kleines flaches Plättchen oder als ein nach allen Dimenſionen gleichförmig ausgedehnter Körper erſcheinen kann. Der in Pflanzen ſo häufig vorkommende kryſtalliſirte ſauerkleeſaure Kalk hat beſtändig in allen ſeinen Formen ein Quadrat zur Grund- fläche, auf welcher ſich eine quadratiſche Säule erhebt. Iſt dieſe aber ſehr kurz, ſo liegt ein kleines viereckiges Plättchen vor, wird ſie höher ſo nähert ſie ſich allmälig immer mehr einer Würfelform; noch länger geht ſie über dieſen hinaus und erſcheint endlich als ein langes dünnes Nadelchen faſt fadenförmig, immer bleibt dabei aber die Kryſtallgeſtalt, das Weſentliche der Form, völlig gleich, nämlich eine quadratiſche Säule; ungefähr wie wir die gleiche menſchliche Geſtalt anerkennen, mag der Menſch kurz und dick, oder ſehr lang und ſchlank ſeyn. Der Schluß, den wir gleich hieraus ziehen können iſt der, daß wir aus dem allgemeinen Begriff eines Körpers gar keine Merkmale ab- leiten können, um die Geſtalten zu unterſcheiden und anzuord- nen. Zwar laſſen ſich auf dem Papier in der Studirſtube präch- tige Syſteme ausdenken, aber für die Wirklichkeit haben dieſe gar keine Bedeutung. So wie wir an dieſe hinantreten, müſſen wir vielmehr beſcheiden erſt anfragen, ob die Natur geneigt ſey uns ihre Geheimniſſe zu verrathen, ob ſie in dieſem oder jenem einzelnen Falle uns offenbaren will, welche Merkmale ſich bei

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/101>, abgerufen am 06.05.2024.