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Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

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Zweite Vorlesung.
an eine bei ihm vorausgesetzte Erfahrung und sage: "ein Wald ist eine
große Anzahl von Bäumen, die auf einem größeren Areal dicht bei¬
sammen stehen". Den "Baum", auf den ich mich dabei beziehe, habe
ich nie gesehen, der, mit dem ich rede, ebensowenig, denn in der That
existirt so ein Ding in der ganzen Welt gar nicht; was existirt, was
wirklich da ist, sind nur einzelne nach Alter, Größe, Verzweigung,
Blattzahl und dergleichen ganz bestimmte Eichen, Buchen, Linden, Wei¬
den, Pappeln u. s. w. Aber indem der Mensch viele einzelne bestimmte
Eichen sieht, verwischen sich in der Erinnerung allmählich alle die ein¬
zelnen scharf gezeichneten Züge, durch welche sich die eine individuelle
Eiche von der andern unterschied und in unserem Vorstellungskreise
bleibt zuletzt eine sehr unbestimmte, fast nebelhafte Zeichnung stehen,
die wir "Eiche" nennen, die alle die Züge umfaßt, die sämmtlichen ge¬
sehenen Individuen gemeinschaftlich zusammen gehören, aber nicht einen
einzigen Zug behalten hat, der nur diesem oder jenem Individuum allein
zukäme; es ist eine Zeichnung, die das Eigenthümliche hat, daß sie sich
niemals anschaulich darstellen, niemals etwa auf Papier wirklich aus¬
führen läßt, denn was ich hinzeichne, ist schon wieder ein bestimmtes
Individuum mit einer ganz bestimmten Stammdicke und Verästelung,
das ist aber nicht die Eiche in meiner Vorstellung, denn der Ausdruck
"Eiche" muß eben so gut die zehnjährige wie die tausendjährige bezeich¬
nen. Nun geht aber derselbe Vorgang in weiterem Kreise wiederum
von Statten; ich sah viele Eichen, Linden, Erlen u. s. w. Was diesel¬
ben unterscheidet, verschwimmt in der Erinnerung, was sie alle Ge¬
meinschaftliches haben, bleibt für sich als ein noch unbestimmteres Phan¬
tasiebild stehen, welches ich "Baum" nenne. -- Diese nebelhaften
Zeichnungen nun, die aus dem Unbestimmtwerden und Verschmelzen
einer gewissen Anzahl von Erinnerungen entstehen, nennen die Psycho¬
logen im Allgemeinen "Schemata" (Kant nannte sie sehr treffend
"Monogramme der Einbildungskraft", erinnernd an die wenigen
Striche, mit denen der Maler seinen Namen andeutet). -- Wenn wir
uns nun aber in Gedanken diese Nebelbilder gleichsam schärfer auszu¬

Zweite Vorleſung.
an eine bei ihm vorausgeſetzte Erfahrung und ſage: „ein Wald iſt eine
große Anzahl von Bäumen, die auf einem größeren Areal dicht bei¬
ſammen ſtehen“. Den „Baum“, auf den ich mich dabei beziehe, habe
ich nie geſehen, der, mit dem ich rede, ebenſowenig, denn in der That
exiſtirt ſo ein Ding in der ganzen Welt gar nicht; was exiſtirt, was
wirklich da iſt, ſind nur einzelne nach Alter, Größe, Verzweigung,
Blattzahl und dergleichen ganz beſtimmte Eichen, Buchen, Linden, Wei¬
den, Pappeln u. ſ. w. Aber indem der Menſch viele einzelne beſtimmte
Eichen ſieht, verwiſchen ſich in der Erinnerung allmählich alle die ein¬
zelnen ſcharf gezeichneten Züge, durch welche ſich die eine individuelle
Eiche von der andern unterſchied und in unſerem Vorſtellungskreiſe
bleibt zuletzt eine ſehr unbeſtimmte, faſt nebelhafte Zeichnung ſtehen,
die wir „Eiche“ nennen, die alle die Züge umfaßt, die ſämmtlichen ge¬
ſehenen Individuen gemeinſchaftlich zuſammen gehören, aber nicht einen
einzigen Zug behalten hat, der nur dieſem oder jenem Individuum allein
zukäme; es iſt eine Zeichnung, die das Eigenthümliche hat, daß ſie ſich
niemals anſchaulich darſtellen, niemals etwa auf Papier wirklich aus¬
führen läßt, denn was ich hinzeichne, iſt ſchon wieder ein beſtimmtes
Individuum mit einer ganz beſtimmten Stammdicke und Veräſtelung,
das iſt aber nicht die Eiche in meiner Vorſtellung, denn der Ausdruck
Eiche“ muß eben ſo gut die zehnjährige wie die tauſendjährige bezeich¬
nen. Nun geht aber derſelbe Vorgang in weiterem Kreiſe wiederum
von Statten; ich ſah viele Eichen, Linden, Erlen u. ſ. w. Was dieſel¬
ben unterſcheidet, verſchwimmt in der Erinnerung, was ſie alle Ge¬
meinſchaftliches haben, bleibt für ſich als ein noch unbeſtimmteres Phan¬
taſiebild ſtehen, welches ich „Baum“ nenne. — Dieſe nebelhaften
Zeichnungen nun, die aus dem Unbeſtimmtwerden und Verſchmelzen
einer gewiſſen Anzahl von Erinnerungen entſtehen, nennen die Pſycho¬
logen im Allgemeinen „Schemata“ (Kant nannte ſie ſehr treffend
Monogramme der Einbildungskraft“, erinnernd an die wenigen
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[32/0042] Zweite Vorleſung. an eine bei ihm vorausgeſetzte Erfahrung und ſage: „ein Wald iſt eine große Anzahl von Bäumen, die auf einem größeren Areal dicht bei¬ ſammen ſtehen“. Den „Baum“, auf den ich mich dabei beziehe, habe ich nie geſehen, der, mit dem ich rede, ebenſowenig, denn in der That exiſtirt ſo ein Ding in der ganzen Welt gar nicht; was exiſtirt, was wirklich da iſt, ſind nur einzelne nach Alter, Größe, Verzweigung, Blattzahl und dergleichen ganz beſtimmte Eichen, Buchen, Linden, Wei¬ den, Pappeln u. ſ. w. Aber indem der Menſch viele einzelne beſtimmte Eichen ſieht, verwiſchen ſich in der Erinnerung allmählich alle die ein¬ zelnen ſcharf gezeichneten Züge, durch welche ſich die eine individuelle Eiche von der andern unterſchied und in unſerem Vorſtellungskreiſe bleibt zuletzt eine ſehr unbeſtimmte, faſt nebelhafte Zeichnung ſtehen, die wir „Eiche“ nennen, die alle die Züge umfaßt, die ſämmtlichen ge¬ ſehenen Individuen gemeinſchaftlich zuſammen gehören, aber nicht einen einzigen Zug behalten hat, der nur dieſem oder jenem Individuum allein zukäme; es iſt eine Zeichnung, die das Eigenthümliche hat, daß ſie ſich niemals anſchaulich darſtellen, niemals etwa auf Papier wirklich aus¬ führen läßt, denn was ich hinzeichne, iſt ſchon wieder ein beſtimmtes Individuum mit einer ganz beſtimmten Stammdicke und Veräſtelung, das iſt aber nicht die Eiche in meiner Vorſtellung, denn der Ausdruck „Eiche“ muß eben ſo gut die zehnjährige wie die tauſendjährige bezeich¬ nen. Nun geht aber derſelbe Vorgang in weiterem Kreiſe wiederum von Statten; ich ſah viele Eichen, Linden, Erlen u. ſ. w. Was dieſel¬ ben unterſcheidet, verſchwimmt in der Erinnerung, was ſie alle Ge¬ meinſchaftliches haben, bleibt für ſich als ein noch unbeſtimmteres Phan¬ taſiebild ſtehen, welches ich „Baum“ nenne. — Dieſe nebelhaften Zeichnungen nun, die aus dem Unbeſtimmtwerden und Verſchmelzen einer gewiſſen Anzahl von Erinnerungen entſtehen, nennen die Pſycho¬ logen im Allgemeinen „Schemata“ (Kant nannte ſie ſehr treffend „Monogramme der Einbildungskraft“, erinnernd an die wenigen Striche, mit denen der Maler ſeinen Namen andeutet). — Wenn wir uns nun aber in Gedanken dieſe Nebelbilder gleichſam ſchärfer auszu¬

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/42>, abgerufen am 24.11.2024.