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Schleicher, August: Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen. Bd. 1. Weimar, 1861.

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Sprachclassen. Vom leben der sprache.
hungslaute -- von uns bezeichnet mit s (suffix) p (praefix) i (infix)
-- fügen können: zusammen fügende sprachen (z. b. die
finnischen, tatarischen, dekhanischen und die meisten sprachen
überhaupt); auf diser stufe der entwickelung würde das wort
ai-mi i-ma oder i-mi (Ws) lauten; 3. sprachen, die die wurzel
selbst zum zwecke des beziehungsaußdruckes regelmäßig verän-
dern können und dabei die mittel der zusammenfügung bei be-
halten: flectierende sprachen. Eine solche zum zwecke des
beziehungsaußdruckes regelmäßig veränderliche wurzel bezeich-
nen wir mit Wx (W1, W2 u. s. f.). Bis jezt sind uns zwei sprach-
stämme diser classe bekant, der semitische und der indogerma-
nische. Lezterer hat für alle worte nur eine form, nämlich
Wxs (s bedeutet ein suffix oder merere dergleichen), also re-
gelmäßig veränderliche wurzel mit beziehungsausdrücken am
ende derselben (suffixen) z. b. ai-mi griech. ei-mi von wurzel i.

Anm. 1. Das semitische, dem indogermanischen nicht verwant, hat
merere formen des wortes, das indogermanische nur eine einzige;
außerdem ist der vocalismus desselben von dem des indogerma-
nischen völlig verschiden, anderer tief greifender gegensätze zu
geschweigen. Vgl. Aug. Schleicher, semitisch u. indogermanisch
in Beitr. II, pg. 236 -- 244.
Anm. 2. Das augment im indogermanischen ist kein beziehungs-
zusatz, sondern ein an geschmolzenes ursprünglich selbständiges
wort, das bekantlich auch felen kann.

II. Das leben der sprache, gewönlich geschichte der
sprache genant, zerfält in zwei hauptabschnitte:

1. entwickelung der sprache, vorhistorische pe-
riode
. Alle höheren sprachformen sind auß einfacheren her-
vor gegangen, die zusammen fügende sprachform auß der iso-
lierenden, die flectierende auß der zusammen fügenden.

2. verfall der sprache in laut und form, wobei zu-
gleich in function und sazbau bedeutende veränderungen statt
finden, historische periode.

Durch verschidene entwickelung auf verschidenen punkten
des gebietes einer und derselben sprache spaltet sich im ver-
laufe der zweiten periode, deren anfang aber ebenfals vor die
historische überliferung fält, eine und dieselbe sprache in me-

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Sprachclassen. Vom leben der sprache.
hungslaute — von uns bezeichnet mit s (suffix) p (praefix) i (infix)
— fügen können: zusammen fügende sprachen (z. b. die
finnischen, tatarischen, dekhanischen und die meisten sprachen
überhaupt); auf diser stufe der entwickelung würde das wort
ai-mi i-ma oder i-mi (Ws) lauten; 3. sprachen, die die wurzel
selbst zum zwecke des beziehungsaußdruckes regelmäßig verän-
dern können und dabei die mittel der zusammenfügung bei be-
halten: flectierende sprachen. Eine solche zum zwecke des
beziehungsaußdruckes regelmäßig veränderliche wurzel bezeich-
nen wir mit Wx (W1, W2 u. s. f.). Bis jezt sind uns zwei sprach-
stämme diser classe bekant, der semitische und der indogerma-
nische. Lezterer hat für alle worte nur eine form, nämlich
Wxs (s bedeutet ein suffix oder merere dergleichen), also re-
gelmäßig veränderliche wurzel mit beziehungsausdrücken am
ende derselben (suffixen) z. b. ai-mi griech. εἶ-μι von wurzel i.

Anm. 1. Das semitische, dem indogermanischen nicht verwant, hat
merere formen des wortes, das indogermanische nur eine einzige;
außerdem ist der vocalismus desselben von dem des indogerma-
nischen völlig verschiden, anderer tief greifender gegensätze zu
geschweigen. Vgl. Aug. Schleicher, semitisch u. indogermanisch
in Beitr. II, pg. 236 — 244.
Anm. 2. Das augment im indogermanischen ist kein beziehungs-
zusatz, sondern ein an geschmolzenes ursprünglich selbständiges
wort, das bekantlich auch felen kann.

II. Das leben der sprache, gewönlich geschichte der
sprache genant, zerfält in zwei hauptabschnitte:

1. entwickelung der sprache, vorhistorische pe-
riode
. Alle höheren sprachformen sind auß einfacheren her-
vor gegangen, die zusammen fügende sprachform auß der iso-
lierenden, die flectierende auß der zusammen fügenden.

2. verfall der sprache in laut und form, wobei zu-
gleich in function und sazbau bedeutende veränderungen statt
finden, historische periode.

Durch verschidene entwickelung auf verschidenen punkten
des gebietes einer und derselben sprache spaltet sich im ver-
laufe der zweiten periode, deren anfang aber ebenfals vor die
historische überliferung fält, eine und dieselbe sprache in me-

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[3/0017] Sprachclassen. Vom leben der sprache. hungslaute — von uns bezeichnet mit s (suffix) p (praefix) i (infix) — fügen können: zusammen fügende sprachen (z. b. die finnischen, tatarischen, dekhanischen und die meisten sprachen überhaupt); auf diser stufe der entwickelung würde das wort ai-mi i-ma oder i-mi (Ws) lauten; 3. sprachen, die die wurzel selbst zum zwecke des beziehungsaußdruckes regelmäßig verän- dern können und dabei die mittel der zusammenfügung bei be- halten: flectierende sprachen. Eine solche zum zwecke des beziehungsaußdruckes regelmäßig veränderliche wurzel bezeich- nen wir mit Wx (W1, W2 u. s. f.). Bis jezt sind uns zwei sprach- stämme diser classe bekant, der semitische und der indogerma- nische. Lezterer hat für alle worte nur eine form, nämlich Wxs (s bedeutet ein suffix oder merere dergleichen), also re- gelmäßig veränderliche wurzel mit beziehungsausdrücken am ende derselben (suffixen) z. b. ai-mi griech. εἶ-μι von wurzel i. Anm. 1. Das semitische, dem indogermanischen nicht verwant, hat merere formen des wortes, das indogermanische nur eine einzige; außerdem ist der vocalismus desselben von dem des indogerma- nischen völlig verschiden, anderer tief greifender gegensätze zu geschweigen. Vgl. Aug. Schleicher, semitisch u. indogermanisch in Beitr. II, pg. 236 — 244. Anm. 2. Das augment im indogermanischen ist kein beziehungs- zusatz, sondern ein an geschmolzenes ursprünglich selbständiges wort, das bekantlich auch felen kann. II. Das leben der sprache, gewönlich geschichte der sprache genant, zerfält in zwei hauptabschnitte: 1. entwickelung der sprache, vorhistorische pe- riode. Alle höheren sprachformen sind auß einfacheren her- vor gegangen, die zusammen fügende sprachform auß der iso- lierenden, die flectierende auß der zusammen fügenden. 2. verfall der sprache in laut und form, wobei zu- gleich in function und sazbau bedeutende veränderungen statt finden, historische periode. Durch verschidene entwickelung auf verschidenen punkten des gebietes einer und derselben sprache spaltet sich im ver- laufe der zweiten periode, deren anfang aber ebenfals vor die historische überliferung fält, eine und dieselbe sprache in me- 1*

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Zitationshilfe: Schleicher, August: Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen. Bd. 1. Weimar, 1861, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleicher_indogermanische01_1861/17>, abgerufen am 23.04.2024.