Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800.sie uns kommen, wie die alte ehemalige, überall die erste Blüthe der jugendlichen Fantasie, sich unmittelbar anschließend und anbildend an das nächste, lebendigste der sinnlichen Welt. Die neue Mythologie muß im Gegentheil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke seyn, denn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt. Jhr mögt wohl lächeln über dieses mystische Gedicht und über die Unordnung, die etwa aus dem Gedränge und der Fülle von Dichtungen entstehn dürfte. Aber die höchste Schönheit, ja die höchste Ordnung ist denn doch nur die des Chaos, nämlich eines solchen, welches nur auf die Berührung der Liebe wartet, um sich zu einer harmonischen Welt zu entfalten, eines solchen wie es auch die alte Mythologie und Poesie war. Denn Mythologie und Poesie, beyde sind Eins und unzertrennlich. Alle Gedichte des Alterthums schließen sich eines an das andre, bis sich aus immer größern Massen und Gliedern das Ganze bildet; alles greift in einander, und überall ist ein und derselbe Geist nur anders ausgedruckt. Und so ist es wahrlich kein leeres Bild, zu sagen: die alte Poesie sey ein einziges, untheilbares, vollendetes Gedicht. Warum sollte nicht wieder von neuem werden, was schon gewesen ist? Auf eine andre Weise versteht sich. Und warum nicht auf eine schönere, größere? -- Jch bitte Euch, nur dem Unglauben an die Möglichkeit sie uns kommen, wie die alte ehemalige, uͤberall die erste Bluͤthe der jugendlichen Fantasie, sich unmittelbar anschließend und anbildend an das naͤchste, lebendigste der sinnlichen Welt. Die neue Mythologie muß im Gegentheil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das kuͤnstlichste aller Kunstwerke seyn, denn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefaͤß fuͤr den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhuͤllt. Jhr moͤgt wohl laͤcheln uͤber dieses mystische Gedicht und uͤber die Unordnung, die etwa aus dem Gedraͤnge und der Fuͤlle von Dichtungen entstehn duͤrfte. Aber die hoͤchste Schoͤnheit, ja die hoͤchste Ordnung ist denn doch nur die des Chaos, naͤmlich eines solchen, welches nur auf die Beruͤhrung der Liebe wartet, um sich zu einer harmonischen Welt zu entfalten, eines solchen wie es auch die alte Mythologie und Poesie war. Denn Mythologie und Poesie, beyde sind Eins und unzertrennlich. Alle Gedichte des Alterthums schließen sich eines an das andre, bis sich aus immer groͤßern Massen und Gliedern das Ganze bildet; alles greift in einander, und uͤberall ist ein und derselbe Geist nur anders ausgedruckt. Und so ist es wahrlich kein leeres Bild, zu sagen: die alte Poesie sey ein einziges, untheilbares, vollendetes Gedicht. Warum sollte nicht wieder von neuem werden, was schon gewesen ist? Auf eine andre Weise versteht sich. Und warum nicht auf eine schoͤnere, groͤßere? — Jch bitte Euch, nur dem Unglauben an die Moͤglichkeit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0104" n="96"/> sie uns kommen, wie die alte ehemalige, uͤberall die erste Bluͤthe der jugendlichen Fantasie, sich unmittelbar anschließend und anbildend an das naͤchste, lebendigste der sinnlichen Welt. Die neue Mythologie muß im Gegentheil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das kuͤnstlichste aller Kunstwerke seyn, denn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefaͤß fuͤr den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhuͤllt.</p><lb/> <p>Jhr moͤgt wohl laͤcheln uͤber dieses mystische Gedicht und uͤber die Unordnung, die etwa aus dem Gedraͤnge und der Fuͤlle von Dichtungen entstehn duͤrfte. Aber die hoͤchste Schoͤnheit, ja die hoͤchste Ordnung ist denn doch nur die des Chaos, naͤmlich eines solchen, welches nur auf die Beruͤhrung der Liebe wartet, um sich zu einer harmonischen Welt zu entfalten, eines solchen wie es auch die alte Mythologie und Poesie war. Denn Mythologie und Poesie, beyde sind Eins und unzertrennlich. Alle Gedichte des Alterthums schließen sich eines an das andre, bis sich aus immer groͤßern Massen und Gliedern das Ganze bildet; alles greift in einander, und uͤberall ist ein und derselbe Geist nur anders ausgedruckt. Und so ist es wahrlich kein leeres Bild, zu sagen: die alte Poesie sey ein einziges, untheilbares, vollendetes Gedicht. Warum sollte nicht wieder von neuem werden, was schon gewesen ist? Auf eine andre Weise versteht sich. Und warum nicht auf eine schoͤnere, groͤßere? —</p><lb/> <p>Jch bitte Euch, nur dem Unglauben an die Moͤglichkeit </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [96/0104]
sie uns kommen, wie die alte ehemalige, uͤberall die erste Bluͤthe der jugendlichen Fantasie, sich unmittelbar anschließend und anbildend an das naͤchste, lebendigste der sinnlichen Welt. Die neue Mythologie muß im Gegentheil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das kuͤnstlichste aller Kunstwerke seyn, denn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefaͤß fuͤr den alten ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhuͤllt.
Jhr moͤgt wohl laͤcheln uͤber dieses mystische Gedicht und uͤber die Unordnung, die etwa aus dem Gedraͤnge und der Fuͤlle von Dichtungen entstehn duͤrfte. Aber die hoͤchste Schoͤnheit, ja die hoͤchste Ordnung ist denn doch nur die des Chaos, naͤmlich eines solchen, welches nur auf die Beruͤhrung der Liebe wartet, um sich zu einer harmonischen Welt zu entfalten, eines solchen wie es auch die alte Mythologie und Poesie war. Denn Mythologie und Poesie, beyde sind Eins und unzertrennlich. Alle Gedichte des Alterthums schließen sich eines an das andre, bis sich aus immer groͤßern Massen und Gliedern das Ganze bildet; alles greift in einander, und uͤberall ist ein und derselbe Geist nur anders ausgedruckt. Und so ist es wahrlich kein leeres Bild, zu sagen: die alte Poesie sey ein einziges, untheilbares, vollendetes Gedicht. Warum sollte nicht wieder von neuem werden, was schon gewesen ist? Auf eine andre Weise versteht sich. Und warum nicht auf eine schoͤnere, groͤßere? —
Jch bitte Euch, nur dem Unglauben an die Moͤglichkeit
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800/104 |
Zitationshilfe: | Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 3. Berlin, 1800, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1800/104>, abgerufen am 27.07.2024. |