Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799.Rock mit einem kleinen Zopf hatte. Das heißt doch den Geschmack noch mehr hassen, als die Menschen! Das Schauspielhaus erdröhnt vom Klatschen bey jeder moralischen Plattitude, die bey uns auf keine Pensionsmamsell mehr Eindruck machte. So jung ist das Volk hier, außerdem daß durch die vielfachen Revoluzionsgreuel die Tugend ihnen ganz pikant geworden ist." Wenn man den Roman der Genlis, les voeux temeraires in einem Strich durchgelesen hat, mit allen ihren Künstlichkeiten und appretirten Tugenden und Delikatessen: so sehnt man sich ordentlich nach ein wenig derber Natürlichkeit und Härte, wie man sich nach einer Krankheit, in der man zu Habersuppen verdammt war, nach irgend einer Säure sehnt. -- Die Langeweile, welche einen wegen der gänzlichen Abwesenheit des Witzes dabey ergreift, abgerechnet, ist das Buch weder so gut noch so schlecht als man es gefunden hat. Viel Fantasie aber ohne Blüthe und ohne Frischheit, alles wie im Treibhause getrieben; viel Kenntniß ihrer Welt, bonton, Galanterie, aber alles geschnürt und im Reifrocke. Die Charaktere werden immer erst beschrieben, und dann müssen sich die Menschen in diese Vorschrift einpassen, wie die Probe zu einem Rechnungsexempel. Die Heldin, eine völlige Engländerin, wie sie sich der übertreibenden Fantasie einer Französin darstellt, flieht alle menschliche Rock mit einem kleinen Zopf hatte. Das heißt doch den Geschmack noch mehr hassen, als die Menschen! Das Schauspielhaus erdroͤhnt vom Klatschen bey jeder moralischen Plattitude, die bey uns auf keine Pensionsmamsell mehr Eindruck machte. So jung ist das Volk hier, außerdem daß durch die vielfachen Revoluzionsgreuel die Tugend ihnen ganz pikant geworden ist.” Wenn man den Roman der Genlis, les voeux téméraires in einem Strich durchgelesen hat, mit allen ihren Kuͤnstlichkeiten und appretirten Tugenden und Delikatessen: so sehnt man sich ordentlich nach ein wenig derber Natuͤrlichkeit und Haͤrte, wie man sich nach einer Krankheit, in der man zu Habersuppen verdammt war, nach irgend einer Saͤure sehnt. — Die Langeweile, welche einen wegen der gaͤnzlichen Abwesenheit des Witzes dabey ergreift, abgerechnet, ist das Buch weder so gut noch so schlecht als man es gefunden hat. Viel Fantasie aber ohne Bluͤthe und ohne Frischheit, alles wie im Treibhause getrieben; viel Kenntniß ihrer Welt, bonton, Galanterie, aber alles geschnuͤrt und im Reifrocke. Die Charaktere werden immer erst beschrieben, und dann muͤssen sich die Menschen in diese Vorschrift einpassen, wie die Probe zu einem Rechnungsexempel. Die Heldin, eine voͤllige Englaͤnderin, wie sie sich der uͤbertreibenden Fantasie einer Franzoͤsin darstellt, flieht alle menschliche <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0332" n="322"/> Rock mit einem kleinen Zopf hatte. Das heißt doch den Geschmack noch mehr hassen, als die Menschen!</p><lb/> <p>Das Schauspielhaus erdroͤhnt vom Klatschen bey jeder moralischen Plattitude, die bey uns auf keine Pensionsmamsell mehr Eindruck machte. So jung ist das Volk hier, außerdem daß durch die vielfachen Revoluzionsgreuel die Tugend ihnen ganz pikant geworden ist.”</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Wenn man den Roman der Genlis, les voeux téméraires in einem Strich durchgelesen hat, mit allen ihren Kuͤnstlichkeiten und appretirten Tugenden und Delikatessen: so sehnt man sich ordentlich nach ein wenig derber Natuͤrlichkeit und Haͤrte, wie man sich nach einer Krankheit, in der man zu Habersuppen verdammt war, nach irgend einer Saͤure sehnt. — Die Langeweile, welche einen wegen der gaͤnzlichen Abwesenheit des Witzes dabey ergreift, abgerechnet, ist das Buch weder so gut noch so schlecht als man es gefunden hat. Viel Fantasie aber ohne Bluͤthe und ohne Frischheit, alles wie im Treibhause getrieben; viel Kenntniß ihrer Welt, bonton, Galanterie, aber alles geschnuͤrt und im Reifrocke. Die Charaktere werden immer erst beschrieben, und dann muͤssen sich die Menschen in diese Vorschrift einpassen, wie die Probe zu einem Rechnungsexempel. Die Heldin, eine voͤllige Englaͤnderin, wie sie sich der uͤbertreibenden Fantasie einer Franzoͤsin darstellt, flieht alle menschliche </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [322/0332]
Rock mit einem kleinen Zopf hatte. Das heißt doch den Geschmack noch mehr hassen, als die Menschen!
Das Schauspielhaus erdroͤhnt vom Klatschen bey jeder moralischen Plattitude, die bey uns auf keine Pensionsmamsell mehr Eindruck machte. So jung ist das Volk hier, außerdem daß durch die vielfachen Revoluzionsgreuel die Tugend ihnen ganz pikant geworden ist.”
Wenn man den Roman der Genlis, les voeux téméraires in einem Strich durchgelesen hat, mit allen ihren Kuͤnstlichkeiten und appretirten Tugenden und Delikatessen: so sehnt man sich ordentlich nach ein wenig derber Natuͤrlichkeit und Haͤrte, wie man sich nach einer Krankheit, in der man zu Habersuppen verdammt war, nach irgend einer Saͤure sehnt. — Die Langeweile, welche einen wegen der gaͤnzlichen Abwesenheit des Witzes dabey ergreift, abgerechnet, ist das Buch weder so gut noch so schlecht als man es gefunden hat. Viel Fantasie aber ohne Bluͤthe und ohne Frischheit, alles wie im Treibhause getrieben; viel Kenntniß ihrer Welt, bonton, Galanterie, aber alles geschnuͤrt und im Reifrocke. Die Charaktere werden immer erst beschrieben, und dann muͤssen sich die Menschen in diese Vorschrift einpassen, wie die Probe zu einem Rechnungsexempel. Die Heldin, eine voͤllige Englaͤnderin, wie sie sich der uͤbertreibenden Fantasie einer Franzoͤsin darstellt, flieht alle menschliche
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Zitationshilfe: | Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1799/332>, abgerufen am 16.07.2024. |