Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799.möchte, und daß sie unter der Wirklichkeit das Gewöhnliche und Gemeine verstehen, dessen Daseyn man so leicht vergißt. Jch bin weit entfernt, es der Poesie zum Verbrechen zu machen, daß sie weniger Religion hat, als ihre Schwester. Denn es scheint mir eben ihre liebenswürdige Bestimmung, den Geist mit der Natur zu befreunden und den Himmel selbst durch den Zauber ihrer geselligen Reize auf die Erde herab zu locken; Menschen zu Göttern zu erheben, das mag sie der Philosophie überlassen. Wenn ein Mann gegen seine Lage und Lebensart ein Gegengewicht bedarf, um nicht die Musen zu vergessen und die Harmonie zu verlieren, so können ihn die Wissenschaften nicht retten, wenn nicht die Poesie ihn aus ihrer Quelle ewiger Jugend erfrischt und stärkt. Du erräthst schon, daß ich Dich an das erinnere, was ich über die Verschiedenheit der männlichen und weiblichen Bildung sagte, und nun eben daraus folgere: für die Frauen sey die Philosophie das nähere und unentbehrlichere Bedürfniß. Den äußern Reiz sind sie nicht in Gefahr zu vergessen, wie es Männern so leicht begegnet, und wenn sie auch sonst noch so unheilig sind, so halten sie doch die Jugend heilig und den jugendlichen Sinn, und diese Poesie des Lebens ist ihnen natürlich. Darum wählen sie auch fast alle ohne Ausnahme diese, wenn man Wahl nennen kann, was ohne Vergleichung, auch wohl ohne Ueberlegung nach der hergebrachten Meynung, und nach dem ersten Eindrucke geschieht. Sind es solche, die nur zierlich und reizend seyn können, die bloß im moͤchte, und daß sie unter der Wirklichkeit das Gewoͤhnliche und Gemeine verstehen, dessen Daseyn man so leicht vergißt. Jch bin weit entfernt, es der Poesie zum Verbrechen zu machen, daß sie weniger Religion hat, als ihre Schwester. Denn es scheint mir eben ihre liebenswuͤrdige Bestimmung, den Geist mit der Natur zu befreunden und den Himmel selbst durch den Zauber ihrer geselligen Reize auf die Erde herab zu locken; Menschen zu Goͤttern zu erheben, das mag sie der Philosophie uͤberlassen. Wenn ein Mann gegen seine Lage und Lebensart ein Gegengewicht bedarf, um nicht die Musen zu vergessen und die Harmonie zu verlieren, so koͤnnen ihn die Wissenschaften nicht retten, wenn nicht die Poesie ihn aus ihrer Quelle ewiger Jugend erfrischt und staͤrkt. Du erraͤthst schon, daß ich Dich an das erinnere, was ich uͤber die Verschiedenheit der maͤnnlichen und weiblichen Bildung sagte, und nun eben daraus folgere: fuͤr die Frauen sey die Philosophie das naͤhere und unentbehrlichere Beduͤrfniß. Den aͤußern Reiz sind sie nicht in Gefahr zu vergessen, wie es Maͤnnern so leicht begegnet, und wenn sie auch sonst noch so unheilig sind, so halten sie doch die Jugend heilig und den jugendlichen Sinn, und diese Poesie des Lebens ist ihnen natuͤrlich. Darum waͤhlen sie auch fast alle ohne Ausnahme diese, wenn man Wahl nennen kann, was ohne Vergleichung, auch wohl ohne Ueberlegung nach der hergebrachten Meynung, und nach dem ersten Eindrucke geschieht. Sind es solche, die nur zierlich und reizend seyn koͤnnen, die bloß im <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0028" n="20"/> moͤchte, und daß sie unter der Wirklichkeit das Gewoͤhnliche und Gemeine verstehen, dessen Daseyn man so leicht vergißt.</p><lb/> <p>Jch bin weit entfernt, es der Poesie zum Verbrechen zu machen, daß sie weniger Religion hat, als ihre Schwester. Denn es scheint mir eben ihre liebenswuͤrdige Bestimmung, den Geist mit der Natur zu befreunden und den Himmel selbst durch den Zauber ihrer geselligen Reize auf die Erde herab zu locken; Menschen zu Goͤttern zu erheben, das mag sie der Philosophie uͤberlassen. Wenn ein Mann gegen seine Lage und Lebensart ein Gegengewicht bedarf, um nicht die Musen zu vergessen und die Harmonie zu verlieren, so koͤnnen ihn die Wissenschaften nicht retten, wenn nicht die Poesie ihn aus ihrer Quelle ewiger Jugend erfrischt und staͤrkt. Du erraͤthst schon, daß ich Dich an das erinnere, was ich uͤber die Verschiedenheit der maͤnnlichen und weiblichen Bildung sagte, und nun eben daraus folgere: fuͤr die Frauen sey die Philosophie das naͤhere und unentbehrlichere Beduͤrfniß. Den aͤußern Reiz sind sie nicht in Gefahr zu vergessen, wie es Maͤnnern so leicht begegnet, und wenn sie auch sonst noch so unheilig sind, so halten sie doch die Jugend heilig und den jugendlichen Sinn, und diese Poesie des Lebens ist ihnen natuͤrlich. Darum waͤhlen sie auch fast alle ohne Ausnahme diese, wenn man Wahl nennen kann, was ohne Vergleichung, auch wohl ohne Ueberlegung nach der hergebrachten Meynung, und nach dem ersten Eindrucke geschieht. Sind es solche, die nur zierlich und reizend seyn koͤnnen, die bloß im </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [20/0028]
moͤchte, und daß sie unter der Wirklichkeit das Gewoͤhnliche und Gemeine verstehen, dessen Daseyn man so leicht vergißt.
Jch bin weit entfernt, es der Poesie zum Verbrechen zu machen, daß sie weniger Religion hat, als ihre Schwester. Denn es scheint mir eben ihre liebenswuͤrdige Bestimmung, den Geist mit der Natur zu befreunden und den Himmel selbst durch den Zauber ihrer geselligen Reize auf die Erde herab zu locken; Menschen zu Goͤttern zu erheben, das mag sie der Philosophie uͤberlassen. Wenn ein Mann gegen seine Lage und Lebensart ein Gegengewicht bedarf, um nicht die Musen zu vergessen und die Harmonie zu verlieren, so koͤnnen ihn die Wissenschaften nicht retten, wenn nicht die Poesie ihn aus ihrer Quelle ewiger Jugend erfrischt und staͤrkt. Du erraͤthst schon, daß ich Dich an das erinnere, was ich uͤber die Verschiedenheit der maͤnnlichen und weiblichen Bildung sagte, und nun eben daraus folgere: fuͤr die Frauen sey die Philosophie das naͤhere und unentbehrlichere Beduͤrfniß. Den aͤußern Reiz sind sie nicht in Gefahr zu vergessen, wie es Maͤnnern so leicht begegnet, und wenn sie auch sonst noch so unheilig sind, so halten sie doch die Jugend heilig und den jugendlichen Sinn, und diese Poesie des Lebens ist ihnen natuͤrlich. Darum waͤhlen sie auch fast alle ohne Ausnahme diese, wenn man Wahl nennen kann, was ohne Vergleichung, auch wohl ohne Ueberlegung nach der hergebrachten Meynung, und nach dem ersten Eindrucke geschieht. Sind es solche, die nur zierlich und reizend seyn koͤnnen, die bloß im
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