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Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.

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Mit dem vierten Bande scheint das Werk gleichsam mannbar und mündig geworden. Wir sehen nun klar, daß es nicht bloß, was wir Theater oder Poesie nennen, sondern das große Schauspiel der Menschheit selbst und die Kunst aller Künste, die Kunst zu leben, umfassen soll. Wir sehen auch, daß diese Lehrjahre eher jeden andern zum tüchtigen Künstler oder zum tüchtigen Mann bilden wollen und bilden können, als Wilhelmen selbst. Nicht dieser oder jener Mensch sollte erzogen, sondern die Natur, die Bildung selbst sollte in mannichfachen Beyspielen dargestellt, und in einfache Grundsätze zusammengedrängt werden. Wie wir uns in den Bekenntnissen plötzlich aus der Poesie in das Gebiet der Moral versetzt wähnten, so stehn hier die gediegnen Resultate einer Philosophie vor uns, die sich auf den höhern Sinn und Geist gründet, und gleich sehr nach strenger Absonderung und nach erhabner Allgemeinheit aller menschlichen Kräfte und Künste strebt. Für Wilhelmen wird wohl endlich auch gesorgt: aber sie haben ihn fast mehr als billig oder höflich ist, zum besten; selbst der kleine Felix hilft ihn erziehen und beschämen, indem er ihm seine vielfache Unwissenheit fühlbar macht. Nach einigen leichten Krämpfen von Angst, Trotz und Reue verschwindet seine Selbständigkeit aus der Gesellschaft der Lebendigen. Er resignirt förmlich darauf, einen eignen Willen zu haben: und nun sind seine Lehrjahre wirklich vollendet, und Nathalie wird Supplement des Romans. Als die schönste Form der reinsten Weiblichkeit und Güte macht sie einen

Mit dem vierten Bande scheint das Werk gleichsam mannbar und muͤndig geworden. Wir sehen nun klar, daß es nicht bloß, was wir Theater oder Poesie nennen, sondern das große Schauspiel der Menschheit selbst und die Kunst aller Kuͤnste, die Kunst zu leben, umfassen soll. Wir sehen auch, daß diese Lehrjahre eher jeden andern zum tuͤchtigen Kuͤnstler oder zum tuͤchtigen Mann bilden wollen und bilden koͤnnen, als Wilhelmen selbst. Nicht dieser oder jener Mensch sollte erzogen, sondern die Natur, die Bildung selbst sollte in mannichfachen Beyspielen dargestellt, und in einfache Grundsaͤtze zusammengedraͤngt werden. Wie wir uns in den Bekenntnissen ploͤtzlich aus der Poesie in das Gebiet der Moral versetzt waͤhnten, so stehn hier die gediegnen Resultate einer Philosophie vor uns, die sich auf den hoͤhern Sinn und Geist gruͤndet, und gleich sehr nach strenger Absonderung und nach erhabner Allgemeinheit aller menschlichen Kraͤfte und Kuͤnste strebt. Fuͤr Wilhelmen wird wohl endlich auch gesorgt: aber sie haben ihn fast mehr als billig oder hoͤflich ist, zum besten; selbst der kleine Felix hilft ihn erziehen und beschaͤmen, indem er ihm seine vielfache Unwissenheit fuͤhlbar macht. Nach einigen leichten Kraͤmpfen von Angst, Trotz und Reue verschwindet seine Selbstaͤndigkeit aus der Gesellschaft der Lebendigen. Er resignirt foͤrmlich darauf, einen eignen Willen zu haben: und nun sind seine Lehrjahre wirklich vollendet, und Nathalie wird Supplement des Romans. Als die schoͤnste Form der reinsten Weiblichkeit und Guͤte macht sie einen

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[174/0363] Mit dem vierten Bande scheint das Werk gleichsam mannbar und muͤndig geworden. Wir sehen nun klar, daß es nicht bloß, was wir Theater oder Poesie nennen, sondern das große Schauspiel der Menschheit selbst und die Kunst aller Kuͤnste, die Kunst zu leben, umfassen soll. Wir sehen auch, daß diese Lehrjahre eher jeden andern zum tuͤchtigen Kuͤnstler oder zum tuͤchtigen Mann bilden wollen und bilden koͤnnen, als Wilhelmen selbst. Nicht dieser oder jener Mensch sollte erzogen, sondern die Natur, die Bildung selbst sollte in mannichfachen Beyspielen dargestellt, und in einfache Grundsaͤtze zusammengedraͤngt werden. Wie wir uns in den Bekenntnissen ploͤtzlich aus der Poesie in das Gebiet der Moral versetzt waͤhnten, so stehn hier die gediegnen Resultate einer Philosophie vor uns, die sich auf den hoͤhern Sinn und Geist gruͤndet, und gleich sehr nach strenger Absonderung und nach erhabner Allgemeinheit aller menschlichen Kraͤfte und Kuͤnste strebt. Fuͤr Wilhelmen wird wohl endlich auch gesorgt: aber sie haben ihn fast mehr als billig oder hoͤflich ist, zum besten; selbst der kleine Felix hilft ihn erziehen und beschaͤmen, indem er ihm seine vielfache Unwissenheit fuͤhlbar macht. Nach einigen leichten Kraͤmpfen von Angst, Trotz und Reue verschwindet seine Selbstaͤndigkeit aus der Gesellschaft der Lebendigen. Er resignirt foͤrmlich darauf, einen eignen Willen zu haben: und nun sind seine Lehrjahre wirklich vollendet, und Nathalie wird Supplement des Romans. Als die schoͤnste Form der reinsten Weiblichkeit und Guͤte macht sie einen

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Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/363>, abgerufen am 18.05.2024.