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Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.

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und vollendet ist. Vollendet ist, was zugleich natürlich und künstlich ist. Göttlich ist was aus der Liebe zum reinen ewigen Seyn und Werden quillt, die höher ist als alle Poesie und Philosophie. Es giebt eine ruhige Göttlichkeit ohne die zermalmende Kraft des Helden und die bildende Thätigkeit des Künstlers. Was zugleich göttlich, vollendet und groß ist, ist vollkommen.



Ob eine gebildete Frau, bey der von Sittlichkeit die Frage seyn kann, verderbt oder rein sey, läßt sich vielleicht sehr bestimmt entscheiden. Folgt sie der allgemeinen Tendenz, ist Energie des Geistes und des Karakters, die äußre Erscheinung derselben und was eben durch sie gilt, ihr Eins und Alles, so ist sie verderbt. Kennt sie etwas größeres als die Größe, kann sie über ihre natürliche Neigung zur Energie lächeln, ist sie mit einem Worte des Enthusiasmus fähig, so ist sie unschuldig im sittlichen Sinne. Jn dieser Rücksicht kann man sagen, alle Tugend des Weibes sey Religion. Aber daß die Frauen gleichsam mehr an Gott oder an Christus glauben müßten, als die Männer, daß irgend eine gute und schöne Freygeisterey ihnen weniger zieme als den Männern, ist wohl nur eine von den unendlich vielen gemeingeltenden Plattheiten, die Rousseau in ein ordentliches System der Weiblichkeitslehre verbunden hat, in welchem der Unsinn so ins Reine gebracht und ausgebildet war, daß es durchaus allgemeinen Beyfall finden mußte.



und vollendet ist. Vollendet ist, was zugleich natuͤrlich und kuͤnstlich ist. Goͤttlich ist was aus der Liebe zum reinen ewigen Seyn und Werden quillt, die hoͤher ist als alle Poesie und Philosophie. Es giebt eine ruhige Goͤttlichkeit ohne die zermalmende Kraft des Helden und die bildende Thaͤtigkeit des Kuͤnstlers. Was zugleich goͤttlich, vollendet und groß ist, ist vollkommen.



Ob eine gebildete Frau, bey der von Sittlichkeit die Frage seyn kann, verderbt oder rein sey, laͤßt sich vielleicht sehr bestimmt entscheiden. Folgt sie der allgemeinen Tendenz, ist Energie des Geistes und des Karakters, die aͤußre Erscheinung derselben und was eben durch sie gilt, ihr Eins und Alles, so ist sie verderbt. Kennt sie etwas groͤßeres als die Groͤße, kann sie uͤber ihre natuͤrliche Neigung zur Energie laͤcheln, ist sie mit einem Worte des Enthusiasmus faͤhig, so ist sie unschuldig im sittlichen Sinne. Jn dieser Ruͤcksicht kann man sagen, alle Tugend des Weibes sey Religion. Aber daß die Frauen gleichsam mehr an Gott oder an Christus glauben muͤßten, als die Maͤnner, daß irgend eine gute und schoͤne Freygeisterey ihnen weniger zieme als den Maͤnnern, ist wohl nur eine von den unendlich vielen gemeingeltenden Plattheiten, die Rousseau in ein ordentliches System der Weiblichkeitslehre verbunden hat, in welchem der Unsinn so ins Reine gebracht und ausgebildet war, daß es durchaus allgemeinen Beyfall finden mußte.



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[130/0319] und vollendet ist. Vollendet ist, was zugleich natuͤrlich und kuͤnstlich ist. Goͤttlich ist was aus der Liebe zum reinen ewigen Seyn und Werden quillt, die hoͤher ist als alle Poesie und Philosophie. Es giebt eine ruhige Goͤttlichkeit ohne die zermalmende Kraft des Helden und die bildende Thaͤtigkeit des Kuͤnstlers. Was zugleich goͤttlich, vollendet und groß ist, ist vollkommen. Ob eine gebildete Frau, bey der von Sittlichkeit die Frage seyn kann, verderbt oder rein sey, laͤßt sich vielleicht sehr bestimmt entscheiden. Folgt sie der allgemeinen Tendenz, ist Energie des Geistes und des Karakters, die aͤußre Erscheinung derselben und was eben durch sie gilt, ihr Eins und Alles, so ist sie verderbt. Kennt sie etwas groͤßeres als die Groͤße, kann sie uͤber ihre natuͤrliche Neigung zur Energie laͤcheln, ist sie mit einem Worte des Enthusiasmus faͤhig, so ist sie unschuldig im sittlichen Sinne. Jn dieser Ruͤcksicht kann man sagen, alle Tugend des Weibes sey Religion. Aber daß die Frauen gleichsam mehr an Gott oder an Christus glauben muͤßten, als die Maͤnner, daß irgend eine gute und schoͤne Freygeisterey ihnen weniger zieme als den Maͤnnern, ist wohl nur eine von den unendlich vielen gemeingeltenden Plattheiten, die Rousseau in ein ordentliches System der Weiblichkeitslehre verbunden hat, in welchem der Unsinn so ins Reine gebracht und ausgebildet war, daß es durchaus allgemeinen Beyfall finden mußte.

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Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/319>, abgerufen am 25.11.2024.