Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.Sollte sich eine durch Konvenienzen gefesselte Sprache, wie etwa die Französische, nicht durch einen Machtspruch des allgemeinen Willens republikanisiren können? Die Herrschaft der Sprache über die Geister ist offenbar: aber ihre heilige Unverletzlichkeit folgt daraus eben so wenig, als man im Naturrecht den ehemals behaupteten göttlichen Ursprung aller Staatsgewalt gelten lassen kann. Man erzählt, Klopstock habe den Französischen Dichter Rouget de Lisle, der ihn besuchte, mit der Anrede begrüßt: wie er es wage in Deutschland zu erscheinen, da sein Marseiller Marsch funfzigtausend braven Deutschen das Leben gekostet? Dieser Vorwurf war unverdient. Schlug Simson die Philister nicht mit einem Eselskinnbacken? Hat aber der Marseiller Marsch wirklich Antheil an den Siegen Frankreichs, so hat wenigstens Rouget de Lisle die mörderische Gewalt seiner Poesie in diesem einen Stücke erschöpft: mit allen seinen übrigen zusammengenommen, würde man keine Fliege todt schlagen. Die Menge nicht zu achten, ist sittlich; sie zu ehren, ist rechtlich. Werth ist vielleicht kein Volk der Freyheit, aber das gehört vor das forum Dei. Nur derjenige Staat verdient Aristokratie genannt zu werden, in welchem wenigstens die kleinere Sollte sich eine durch Konvenienzen gefesselte Sprache, wie etwa die Franzoͤsische, nicht durch einen Machtspruch des allgemeinen Willens republikanisiren koͤnnen? Die Herrschaft der Sprache uͤber die Geister ist offenbar: aber ihre heilige Unverletzlichkeit folgt daraus eben so wenig, als man im Naturrecht den ehemals behaupteten goͤttlichen Ursprung aller Staatsgewalt gelten lassen kann. Man erzaͤhlt, Klopstock habe den Franzoͤsischen Dichter Rouget de Lisle, der ihn besuchte, mit der Anrede begruͤßt: wie er es wage in Deutschland zu erscheinen, da sein Marseiller Marsch funfzigtausend braven Deutschen das Leben gekostet? Dieser Vorwurf war unverdient. Schlug Simson die Philister nicht mit einem Eselskinnbacken? Hat aber der Marseiller Marsch wirklich Antheil an den Siegen Frankreichs, so hat wenigstens Rouget de Lisle die moͤrderische Gewalt seiner Poesie in diesem einen Stuͤcke erschoͤpft: mit allen seinen uͤbrigen zusammengenommen, wuͤrde man keine Fliege todt schlagen. Die Menge nicht zu achten, ist sittlich; sie zu ehren, ist rechtlich. Werth ist vielleicht kein Volk der Freyheit, aber das gehoͤrt vor das forum Dei. Nur derjenige Staat verdient Aristokratie genannt zu werden, in welchem wenigstens die kleinere <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0244" n="55"/> <p>Sollte sich eine durch Konvenienzen gefesselte Sprache, wie etwa die Franzoͤsische, nicht durch einen Machtspruch des allgemeinen Willens republikanisiren koͤnnen? Die Herrschaft der Sprache uͤber die Geister ist offenbar: aber ihre heilige Unverletzlichkeit folgt daraus eben so wenig, als man im Naturrecht den ehemals behaupteten goͤttlichen Ursprung aller Staatsgewalt gelten lassen kann.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Man erzaͤhlt, Klopstock habe den Franzoͤsischen Dichter Rouget de Lisle, der ihn besuchte, mit der Anrede begruͤßt: wie er es wage in Deutschland zu erscheinen, da sein Marseiller Marsch funfzigtausend braven Deutschen das Leben gekostet? Dieser Vorwurf war unverdient. Schlug Simson die Philister nicht mit einem Eselskinnbacken? Hat aber der Marseiller Marsch wirklich Antheil an den Siegen Frankreichs, so hat wenigstens Rouget de Lisle die moͤrderische Gewalt seiner Poesie in diesem einen Stuͤcke erschoͤpft: mit allen seinen uͤbrigen zusammengenommen, wuͤrde man keine Fliege todt schlagen.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Die Menge nicht zu achten, ist sittlich; sie zu ehren, ist rechtlich.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Werth ist vielleicht kein Volk der Freyheit, aber das gehoͤrt vor das <foreign xml:lang="la">forum Dei</foreign>.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Nur derjenige Staat verdient Aristokratie genannt zu werden, in welchem wenigstens die kleinere<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [55/0244]
Sollte sich eine durch Konvenienzen gefesselte Sprache, wie etwa die Franzoͤsische, nicht durch einen Machtspruch des allgemeinen Willens republikanisiren koͤnnen? Die Herrschaft der Sprache uͤber die Geister ist offenbar: aber ihre heilige Unverletzlichkeit folgt daraus eben so wenig, als man im Naturrecht den ehemals behaupteten goͤttlichen Ursprung aller Staatsgewalt gelten lassen kann.
Man erzaͤhlt, Klopstock habe den Franzoͤsischen Dichter Rouget de Lisle, der ihn besuchte, mit der Anrede begruͤßt: wie er es wage in Deutschland zu erscheinen, da sein Marseiller Marsch funfzigtausend braven Deutschen das Leben gekostet? Dieser Vorwurf war unverdient. Schlug Simson die Philister nicht mit einem Eselskinnbacken? Hat aber der Marseiller Marsch wirklich Antheil an den Siegen Frankreichs, so hat wenigstens Rouget de Lisle die moͤrderische Gewalt seiner Poesie in diesem einen Stuͤcke erschoͤpft: mit allen seinen uͤbrigen zusammengenommen, wuͤrde man keine Fliege todt schlagen.
Die Menge nicht zu achten, ist sittlich; sie zu ehren, ist rechtlich.
Werth ist vielleicht kein Volk der Freyheit, aber das gehoͤrt vor das forum Dei.
Nur derjenige Staat verdient Aristokratie genannt zu werden, in welchem wenigstens die kleinere
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Zitationshilfe: | Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/244>, abgerufen am 16.02.2025. |