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Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.

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nicht zufrieden, die lieblichen Freuden der Gegenwart, die zarte Leidenschaft des Dichters selbst, durch eine gebildete Darstellung zu verewigen, auch die Vergangenheit nach ihrer eigenthümlichen Ansicht verwandelte, und die Gestalten der Vorwelt mit dem Geist der reizendsten Sinnlichkeit neu beseelte.



II. Bruchstück des Hermesianax.

Die Griechische Poesie hat einen entschiedenen und ursprünglichen Hang, die Vergangenheit und die Gegenwart zu verweben und zu verschmelzen. Auch wenn sie, um sich zu vervielfältigen, sich in bestimmte Arten theilt, und nur auf ein Stück ihrer vollständigen Bestimmung beschränkt, weiß sie durch Abschweifungen, die doch immer wieder auf den Hauptzweck zurückführen, ihren Sinn für das Weltall zu offenbaren. Sie spielt wenigstens in Bildern, Beziehungen, Gleichnissen und Beyspielen in die angränzenden Gebiete hinüber, und erhebt sich über die Schranken ihrer Gattung ins Unendliche, ohne doch dem Gesetz ihrer einmal angenommenen Eigenthümlichkeit im mindesten untreu zu werden, weil sie sich das Fremdartigste zu verähnlichen weiß und die Welt umzubilden und anzueignen strebt.

So liebt das alterthümliche Epos Beschreibungen und Gleichnisse aus der lebendigsten Gegenwart der Natur; und so liebt die leidenschaftliche Elegie mythische Beyspiele auszuwählen, und in schöne Kränze zu

nicht zufrieden, die lieblichen Freuden der Gegenwart, die zarte Leidenschaft des Dichters selbst, durch eine gebildete Darstellung zu verewigen, auch die Vergangenheit nach ihrer eigenthuͤmlichen Ansicht verwandelte, und die Gestalten der Vorwelt mit dem Geist der reizendsten Sinnlichkeit neu beseelte.



II. Bruchstuͤck des Hermesianax.

Die Griechische Poesie hat einen entschiedenen und urspruͤnglichen Hang, die Vergangenheit und die Gegenwart zu verweben und zu verschmelzen. Auch wenn sie, um sich zu vervielfaͤltigen, sich in bestimmte Arten theilt, und nur auf ein Stuͤck ihrer vollstaͤndigen Bestimmung beschraͤnkt, weiß sie durch Abschweifungen, die doch immer wieder auf den Hauptzweck zuruͤckfuͤhren, ihren Sinn fuͤr das Weltall zu offenbaren. Sie spielt wenigstens in Bildern, Beziehungen, Gleichnissen und Beyspielen in die angraͤnzenden Gebiete hinuͤber, und erhebt sich uͤber die Schranken ihrer Gattung ins Unendliche, ohne doch dem Gesetz ihrer einmal angenommenen Eigenthuͤmlichkeit im mindesten untreu zu werden, weil sie sich das Fremdartigste zu veraͤhnlichen weiß und die Welt umzubilden und anzueignen strebt.

So liebt das alterthuͤmliche Epos Beschreibungen und Gleichnisse aus der lebendigsten Gegenwart der Natur; und so liebt die leidenschaftliche Elegie mythische Beyspiele auszuwaͤhlen, und in schoͤne Kraͤnze zu

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[115/0126] nicht zufrieden, die lieblichen Freuden der Gegenwart, die zarte Leidenschaft des Dichters selbst, durch eine gebildete Darstellung zu verewigen, auch die Vergangenheit nach ihrer eigenthuͤmlichen Ansicht verwandelte, und die Gestalten der Vorwelt mit dem Geist der reizendsten Sinnlichkeit neu beseelte. II. Bruchstuͤck des Hermesianax. Die Griechische Poesie hat einen entschiedenen und urspruͤnglichen Hang, die Vergangenheit und die Gegenwart zu verweben und zu verschmelzen. Auch wenn sie, um sich zu vervielfaͤltigen, sich in bestimmte Arten theilt, und nur auf ein Stuͤck ihrer vollstaͤndigen Bestimmung beschraͤnkt, weiß sie durch Abschweifungen, die doch immer wieder auf den Hauptzweck zuruͤckfuͤhren, ihren Sinn fuͤr das Weltall zu offenbaren. Sie spielt wenigstens in Bildern, Beziehungen, Gleichnissen und Beyspielen in die angraͤnzenden Gebiete hinuͤber, und erhebt sich uͤber die Schranken ihrer Gattung ins Unendliche, ohne doch dem Gesetz ihrer einmal angenommenen Eigenthuͤmlichkeit im mindesten untreu zu werden, weil sie sich das Fremdartigste zu veraͤhnlichen weiß und die Welt umzubilden und anzueignen strebt. So liebt das alterthuͤmliche Epos Beschreibungen und Gleichnisse aus der lebendigsten Gegenwart der Natur; und so liebt die leidenschaftliche Elegie mythische Beyspiele auszuwaͤhlen, und in schoͤne Kraͤnze zu

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Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/126>, abgerufen am 18.05.2024.