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Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.

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ist, so gemein als möglich behandelt und schnöde angesehn, wenn er die Erwartungen des gewöhnlichen Zeitvertreibs nicht befriedigt, und sie einen Augenblick in Verlegenheit gegen sich selbst setzt. Ein interessantes Symptom dieser direkten Schwäche der Seele ist die Aufnahme, welche Herrmann und Dorothea im Allgemeinen gefunden hat.



Die Geognosten glauben, daß der physische Schwerpunkt unter Fetz und Marocco liege. Goethe als Anthropognost meynt im Meister, der intellektuelle Schwerpunkt liege unter der Deutschen Nazion.



Menschen zu beschreiben ist deswegen bis jetzt unmöglich gewesen, weil man nicht gewußt hat, was ein Mensch ist. Wenn man erst wissen wird, was ein Mensch ist, so wird man auch Jndividuen wahrhaft genetisch beschreiben können.



Nichts ist poetischer, als Erinnerung und Ahndung oder Vorstellung der Zukunft. Die Vorstellungen der Vorzeit ziehn uns zum Sterben, zum Verfliegen an. Die Vorstellungen der Zukunft treiben uns zum Beleben, zum Verkürzen, zur assimilirenden Wirksamkeit. Daher ist alle Erinnerung wehmüthig, alle Ahndung freudig. Jene mäßigt die allzugroße Lebhaftigkeit, diese erhebt ein zu schwaches Leben. Die gewöhnliche Gegenwart verknüpft Vergangenheit und Zukunft durch Beschränkung. Es entsteht Kontiguität, durch Erstarrung Krystallisazion. Es giebt aber

ist, so gemein als moͤglich behandelt und schnoͤde angesehn, wenn er die Erwartungen des gewoͤhnlichen Zeitvertreibs nicht befriedigt, und sie einen Augenblick in Verlegenheit gegen sich selbst setzt. Ein interessantes Symptom dieser direkten Schwaͤche der Seele ist die Aufnahme, welche Herrmann und Dorothea im Allgemeinen gefunden hat.



Die Geognosten glauben, daß der physische Schwerpunkt unter Fetz und Marocco liege. Goethe als Anthropognost meynt im Meister, der intellektuelle Schwerpunkt liege unter der Deutschen Nazion.



Menschen zu beschreiben ist deswegen bis jetzt unmoͤglich gewesen, weil man nicht gewußt hat, was ein Mensch ist. Wenn man erst wissen wird, was ein Mensch ist, so wird man auch Jndividuen wahrhaft genetisch beschreiben koͤnnen.



Nichts ist poetischer, als Erinnerung und Ahndung oder Vorstellung der Zukunft. Die Vorstellungen der Vorzeit ziehn uns zum Sterben, zum Verfliegen an. Die Vorstellungen der Zukunft treiben uns zum Beleben, zum Verkuͤrzen, zur assimilirenden Wirksamkeit. Daher ist alle Erinnerung wehmuͤthig, alle Ahndung freudig. Jene maͤßigt die allzugroße Lebhaftigkeit, diese erhebt ein zu schwaches Leben. Die gewoͤhnliche Gegenwart verknuͤpft Vergangenheit und Zukunft durch Beschraͤnkung. Es entsteht Kontiguitaͤt, durch Erstarrung Krystallisazion. Es giebt aber

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[104/0115] ist, so gemein als moͤglich behandelt und schnoͤde angesehn, wenn er die Erwartungen des gewoͤhnlichen Zeitvertreibs nicht befriedigt, und sie einen Augenblick in Verlegenheit gegen sich selbst setzt. Ein interessantes Symptom dieser direkten Schwaͤche der Seele ist die Aufnahme, welche Herrmann und Dorothea im Allgemeinen gefunden hat. Die Geognosten glauben, daß der physische Schwerpunkt unter Fetz und Marocco liege. Goethe als Anthropognost meynt im Meister, der intellektuelle Schwerpunkt liege unter der Deutschen Nazion. Menschen zu beschreiben ist deswegen bis jetzt unmoͤglich gewesen, weil man nicht gewußt hat, was ein Mensch ist. Wenn man erst wissen wird, was ein Mensch ist, so wird man auch Jndividuen wahrhaft genetisch beschreiben koͤnnen. Nichts ist poetischer, als Erinnerung und Ahndung oder Vorstellung der Zukunft. Die Vorstellungen der Vorzeit ziehn uns zum Sterben, zum Verfliegen an. Die Vorstellungen der Zukunft treiben uns zum Beleben, zum Verkuͤrzen, zur assimilirenden Wirksamkeit. Daher ist alle Erinnerung wehmuͤthig, alle Ahndung freudig. Jene maͤßigt die allzugroße Lebhaftigkeit, diese erhebt ein zu schwaches Leben. Die gewoͤhnliche Gegenwart verknuͤpft Vergangenheit und Zukunft durch Beschraͤnkung. Es entsteht Kontiguitaͤt, durch Erstarrung Krystallisazion. Es giebt aber

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Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/115>, abgerufen am 18.05.2024.