Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122.und sentimentalische Dichter. sten Dichter unsers Vaterlands, an dessen Genie es nichtlag, daß er nicht unter den ersten in dieser Gattung glänzt, Gellert, ein wahrhaft naiver Dichter, so wie auch Rabener, Lessing selbst, wenn ich ihn anders hier nennen darf, Lessing der gebildete Zögling der Critik, und ein so wachsamer Richter seiner selbst -- wie büßen sie nicht alle, mehr oder weniger, den geistlosen Charak- ter der Natur, die sie zum Stoff ihrer Satyre erwählten. Von den neuesten Schriftstellern in dieser Gattung nenne ich keinen, da ich keinen ausnehmen kann. Und nicht genug, daß der naive Dichtergeist in Ge- und ſentimentaliſche Dichter. ſten Dichter unſers Vaterlands, an deſſen Genie es nichtlag, daß er nicht unter den erſten in dieſer Gattung glaͤnzt, Gellert, ein wahrhaft naiver Dichter, ſo wie auch Rabener, Leſſing ſelbſt, wenn ich ihn anders hier nennen darf, Leſſing der gebildete Zoͤgling der Critik, und ein ſo wachſamer Richter ſeiner ſelbſt — wie buͤßen ſie nicht alle, mehr oder weniger, den geiſtloſen Charak- ter der Natur, die ſie zum Stoff ihrer Satyre erwaͤhlten. Von den neueſten Schriftſtellern in dieſer Gattung nenne ich keinen, da ich keinen ausnehmen kann. Und nicht genug, daß der naive Dichtergeiſt in Ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0020" n="85"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">und ſentimentaliſche Dichter</hi>.</fw><lb/> ſten Dichter unſers Vaterlands, an deſſen Genie es nicht<lb/> lag, daß er nicht unter den erſten in dieſer Gattung<lb/> glaͤnzt, <hi rendition="#g">Gellert,</hi> ein wahrhaft naiver Dichter, ſo wie<lb/> auch <hi rendition="#g">Rabener, Leſſing</hi> ſelbſt, wenn ich ihn anders<lb/> hier nennen darf, Leſſing der gebildete Zoͤgling der Critik,<lb/> und ein ſo wachſamer Richter ſeiner ſelbſt — wie buͤßen<lb/> ſie nicht alle, mehr oder weniger, den geiſtloſen Charak-<lb/> ter der Natur, die ſie zum Stoff ihrer Satyre erwaͤhlten.<lb/> Von den <hi rendition="#g">neueſten</hi> Schriftſtellern in dieſer Gattung<lb/> nenne ich keinen, da ich keinen ausnehmen kann.</p><lb/> <p>Und nicht genug, daß der naive Dichtergeiſt in Ge-<lb/> fahr iſt, ſich einer gemeinen Wirklichkeit allzuſehr zu naͤ-<lb/> hern — durch die Leichtigkeit, mit der er ſich aͤuſert,<lb/> und durch eben dieſe groͤßere Annaͤherung an das wirkliche<lb/> Leben macht er noch dem gemeinen Nachahmer Muth,<lb/> ſich im poetiſchen Felde zu verſuchen. Die ſentimentali-<lb/> ſche Poeſie, wiewohl von einer andern Seite gefaͤhrlich<lb/> genug, wie ich hernach zeigen werde, haͤlt wenigſtens<lb/><hi rendition="#g">dieſes</hi> Volk in Entfernung, weil es nicht jedermanns<lb/> Sache iſt, ſich zu Ideen zu erheben; die naive Poeſie<lb/> aber bringt es auf den Glauben, als wenn ſchon die bloße<lb/> Empfindung, der bloße Humor, die bloße Nachahmung<lb/> wirklicher Natur den Dichter ausmache. Nichts aber iſt<lb/> widerwaͤrtiger, als wenn der platte Charakter ſich einfal-<lb/> len laͤßt, liebenswuͤrdig und naiv ſeyn zu wollen; er,<lb/> der ſich in alle Huͤllen der Kunſt ſtecken ſollte, um ſeine<lb/> eckelhafte Natur zu verbergen. Daher denn auch die un-<lb/> ſaͤglichen Platituden, welche ſich die Deutſchen unter dem<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [85/0020]
und ſentimentaliſche Dichter.
ſten Dichter unſers Vaterlands, an deſſen Genie es nicht
lag, daß er nicht unter den erſten in dieſer Gattung
glaͤnzt, Gellert, ein wahrhaft naiver Dichter, ſo wie
auch Rabener, Leſſing ſelbſt, wenn ich ihn anders
hier nennen darf, Leſſing der gebildete Zoͤgling der Critik,
und ein ſo wachſamer Richter ſeiner ſelbſt — wie buͤßen
ſie nicht alle, mehr oder weniger, den geiſtloſen Charak-
ter der Natur, die ſie zum Stoff ihrer Satyre erwaͤhlten.
Von den neueſten Schriftſtellern in dieſer Gattung
nenne ich keinen, da ich keinen ausnehmen kann.
Und nicht genug, daß der naive Dichtergeiſt in Ge-
fahr iſt, ſich einer gemeinen Wirklichkeit allzuſehr zu naͤ-
hern — durch die Leichtigkeit, mit der er ſich aͤuſert,
und durch eben dieſe groͤßere Annaͤherung an das wirkliche
Leben macht er noch dem gemeinen Nachahmer Muth,
ſich im poetiſchen Felde zu verſuchen. Die ſentimentali-
ſche Poeſie, wiewohl von einer andern Seite gefaͤhrlich
genug, wie ich hernach zeigen werde, haͤlt wenigſtens
dieſes Volk in Entfernung, weil es nicht jedermanns
Sache iſt, ſich zu Ideen zu erheben; die naive Poeſie
aber bringt es auf den Glauben, als wenn ſchon die bloße
Empfindung, der bloße Humor, die bloße Nachahmung
wirklicher Natur den Dichter ausmache. Nichts aber iſt
widerwaͤrtiger, als wenn der platte Charakter ſich einfal-
len laͤßt, liebenswuͤrdig und naiv ſeyn zu wollen; er,
der ſich in alle Huͤllen der Kunſt ſtecken ſollte, um ſeine
eckelhafte Natur zu verbergen. Daher denn auch die un-
ſaͤglichen Platituden, welche ſich die Deutſchen unter dem
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Zitationshilfe: | Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 3:] Beschluß. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75-122, hier S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive03_1796/20>, abgerufen am 22.07.2024. |