Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.Erde noch so sehr berührt, nicht gestattet seyn? Ich darf Was der Dichter sich erlauben darf, hieß es, sollte Die Gesetze des Anstandes sind der unschuldigen Na- Erde noch ſo ſehr beruͤhrt, nicht geſtattet ſeyn? Ich darf Was der Dichter ſich erlauben darf, hieß es, ſollte Die Geſetze des Anſtandes ſind der unſchuldigen Na- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0047" n="40"/> Erde noch ſo ſehr beruͤhrt, nicht geſtattet ſeyn? Ich darf<lb/> dieſer Frage hier um ſo weniger ausweichen, da ſowohl im<lb/> elegiſchen als im ſatyriſchen Fache Meiſterſtuͤcke vorhanden<lb/> ſind, welche eine ganz andre Natur, als diejenige iſt,<lb/> von der dieſer Aufſatz ſpricht, zu ſuchen, zu empfehlen,<lb/> und dieſelbe nicht ſowohl gegen die ſchlechten als gegen<lb/> die guten Sitten zu vertheidigen das Anſehen haben. Ent-<lb/> weder muͤßten alſo jene Dichterwerke zu verwerfen oder<lb/> der hier aufgeſtellte Begriff elegiſcher Dichtung viel zu<lb/> willkuͤhrlich angenommen ſeyn.</p><lb/> <p>Was der Dichter ſich erlauben darf, hieß es, ſollte<lb/> dem proſaiſchen Erzaͤhler nicht nachgeſehen werden duͤrfen?<lb/> Die Antwort iſt in der Frage ſchon enthalten: was dem<lb/> Dichter verſtattet iſt, kann fuͤr den, der es nicht iſt,<lb/> nichts beweiſen. In dem Begriffe des Dichters ſelbſt und<lb/> nur in dieſem ligt der Grund jener Freyheit, die eine<lb/> bloß veraͤchtliche Licenz iſt, ſobald ſie nicht aus dem Hoͤch-<lb/> ſten und Edelſten, was ihn ausmacht, kann abgeleitet<lb/> werden.</p><lb/> <p>Die Geſetze des Anſtandes ſind der unſchuldigen Na-<lb/> tur fremd; nur die Erfahrung der Verderbniß hat ihnen<lb/> den Urſprung gegeben. Sobald aber jene Erfahrung ein-<lb/> mal gemacht worden, und aus den Sitten die natuͤrliche<lb/> Unſchuld verſchwunden iſt, ſo ſind es heilige Geſetze, die ein<lb/> ſittliches Gefuͤhl nicht verletzen darf. Sie gelten in einer<lb/> kuͤnſtlichen Welt mit demſelben Rechte, als die Geſetze der<lb/> Natur in der Unſchuldwelt regieren. Aber eben das macht<lb/> ja den Dichter aus, daß er alles in ſich aufhebt, was an<lb/> eine kuͤnſtliche Welt erinnert, daß er die Natur in ihrer<lb/> urſpruͤnglichen Einfalt wieder in ſich herzuſtellen weiß.<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [40/0047]
Erde noch ſo ſehr beruͤhrt, nicht geſtattet ſeyn? Ich darf
dieſer Frage hier um ſo weniger ausweichen, da ſowohl im
elegiſchen als im ſatyriſchen Fache Meiſterſtuͤcke vorhanden
ſind, welche eine ganz andre Natur, als diejenige iſt,
von der dieſer Aufſatz ſpricht, zu ſuchen, zu empfehlen,
und dieſelbe nicht ſowohl gegen die ſchlechten als gegen
die guten Sitten zu vertheidigen das Anſehen haben. Ent-
weder muͤßten alſo jene Dichterwerke zu verwerfen oder
der hier aufgeſtellte Begriff elegiſcher Dichtung viel zu
willkuͤhrlich angenommen ſeyn.
Was der Dichter ſich erlauben darf, hieß es, ſollte
dem proſaiſchen Erzaͤhler nicht nachgeſehen werden duͤrfen?
Die Antwort iſt in der Frage ſchon enthalten: was dem
Dichter verſtattet iſt, kann fuͤr den, der es nicht iſt,
nichts beweiſen. In dem Begriffe des Dichters ſelbſt und
nur in dieſem ligt der Grund jener Freyheit, die eine
bloß veraͤchtliche Licenz iſt, ſobald ſie nicht aus dem Hoͤch-
ſten und Edelſten, was ihn ausmacht, kann abgeleitet
werden.
Die Geſetze des Anſtandes ſind der unſchuldigen Na-
tur fremd; nur die Erfahrung der Verderbniß hat ihnen
den Urſprung gegeben. Sobald aber jene Erfahrung ein-
mal gemacht worden, und aus den Sitten die natuͤrliche
Unſchuld verſchwunden iſt, ſo ſind es heilige Geſetze, die ein
ſittliches Gefuͤhl nicht verletzen darf. Sie gelten in einer
kuͤnſtlichen Welt mit demſelben Rechte, als die Geſetze der
Natur in der Unſchuldwelt regieren. Aber eben das macht
ja den Dichter aus, daß er alles in ſich aufhebt, was an
eine kuͤnſtliche Welt erinnert, daß er die Natur in ihrer
urſpruͤnglichen Einfalt wieder in ſich herzuſtellen weiß.
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