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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

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Das Gefühl, von dem hier die Rede ist, ist also
nicht das, was die Alten hatten; es ist vielmehr einerley
mit demjenigen, welches wir für die Alten haben.
Sie empfanden natürlich; wir empfinden das natürliche.
Es war ohne Zweifel ein ganz anderes Gefühl, was Ho-
mers Seele füllte, als er seinen göttlichen Sauhirt den
Ulysses bewirthen ließ, als was die Seele des jungen
Werthers bewegte, da er nach einer lästigen Gesellschaft
diesen Gesang las. Unser Gefühl für Natur gleicht der
Empfindung des Kranken für die Gesundheit.

So wie nach und nach die Natur anfieng, aus dem
menschlichen Leben als Erfahrung und als das (han-
delnde und empfindende) Subjekt zu verschwinden, so
sehen wir sie in der Dichterwelt als Idee und als Ge-
genstand
aufgehen. Diejenige Nation, welche es zu-
gleich in der Unnatur und in der Reflexion darüber am
weitesten gebracht hatte, mußte zuerst von dem Phänomen
des Naiven am stärksten gerührt werden, und demsel-
ben einen Nahmen geben. Diese Nation waren, so viel
ich weiß die Franzosen. Aber die Empfindung des
Naiven und das Interesse an demselben ist natürlicher-
weise viel älter, und datirt sich schon von dem Anfang
der moralischen und ästhetischen Verderbniß. Diese Ver-
änderung in der Empfindungsweise ist zum Beyspiel schon
äusserst auffallend im Euripides, wenn man diesen
mit seinen Vorgängern besonders dem Aeschylus ver-
gleicht, und doch war jener Dichter der Günstling seiner
Zeit. Die nehmliche Revolution läßt sich auch unter
den alten Historikern nachweisen. Horatz, der Dich-
ter eines kultivirten und verdorbenen Weltalters preißt
die ruhige Glückseligkeit in seinem Tibur, und ihn könnte

Das Gefuͤhl, von dem hier die Rede iſt, iſt alſo
nicht das, was die Alten hatten; es iſt vielmehr einerley
mit demjenigen, welches wir fuͤr die Alten haben.
Sie empfanden natuͤrlich; wir empfinden das natuͤrliche.
Es war ohne Zweifel ein ganz anderes Gefuͤhl, was Ho-
mers Seele fuͤllte, als er ſeinen goͤttlichen Sauhirt den
Ulyſſes bewirthen ließ, als was die Seele des jungen
Werthers bewegte, da er nach einer laͤſtigen Geſellſchaft
dieſen Geſang las. Unſer Gefuͤhl fuͤr Natur gleicht der
Empfindung des Kranken fuͤr die Geſundheit.

So wie nach und nach die Natur anfieng, aus dem
menſchlichen Leben als Erfahrung und als das (han-
delnde und empfindende) Subjekt zu verſchwinden, ſo
ſehen wir ſie in der Dichterwelt als Idee und als Ge-
genſtand
aufgehen. Diejenige Nation, welche es zu-
gleich in der Unnatur und in der Reflexion daruͤber am
weiteſten gebracht hatte, mußte zuerſt von dem Phaͤnomen
des Naiven am ſtaͤrkſten geruͤhrt werden, und demſel-
ben einen Nahmen geben. Dieſe Nation waren, ſo viel
ich weiß die Franzoſen. Aber die Empfindung des
Naiven und das Intereſſe an demſelben iſt natuͤrlicher-
weiſe viel aͤlter, und datirt ſich ſchon von dem Anfang
der moraliſchen und aͤſthetiſchen Verderbniß. Dieſe Ver-
aͤnderung in der Empfindungsweiſe iſt zum Beyſpiel ſchon
aͤuſſerſt auffallend im Euripides, wenn man dieſen
mit ſeinen Vorgaͤngern beſonders dem Aeſchylus ver-
gleicht, und doch war jener Dichter der Guͤnſtling ſeiner
Zeit. Die nehmliche Revolution laͤßt ſich auch unter
den alten Hiſtorikern nachweiſen. Horatz, der Dich-
ter eines kultivirten und verdorbenen Weltalters preißt
die ruhige Gluͤckſeligkeit in ſeinem Tibur, und ihn koͤnnte

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[70/0038] Das Gefuͤhl, von dem hier die Rede iſt, iſt alſo nicht das, was die Alten hatten; es iſt vielmehr einerley mit demjenigen, welches wir fuͤr die Alten haben. Sie empfanden natuͤrlich; wir empfinden das natuͤrliche. Es war ohne Zweifel ein ganz anderes Gefuͤhl, was Ho- mers Seele fuͤllte, als er ſeinen goͤttlichen Sauhirt den Ulyſſes bewirthen ließ, als was die Seele des jungen Werthers bewegte, da er nach einer laͤſtigen Geſellſchaft dieſen Geſang las. Unſer Gefuͤhl fuͤr Natur gleicht der Empfindung des Kranken fuͤr die Geſundheit. So wie nach und nach die Natur anfieng, aus dem menſchlichen Leben als Erfahrung und als das (han- delnde und empfindende) Subjekt zu verſchwinden, ſo ſehen wir ſie in der Dichterwelt als Idee und als Ge- genſtand aufgehen. Diejenige Nation, welche es zu- gleich in der Unnatur und in der Reflexion daruͤber am weiteſten gebracht hatte, mußte zuerſt von dem Phaͤnomen des Naiven am ſtaͤrkſten geruͤhrt werden, und demſel- ben einen Nahmen geben. Dieſe Nation waren, ſo viel ich weiß die Franzoſen. Aber die Empfindung des Naiven und das Intereſſe an demſelben iſt natuͤrlicher- weiſe viel aͤlter, und datirt ſich ſchon von dem Anfang der moraliſchen und aͤſthetiſchen Verderbniß. Dieſe Ver- aͤnderung in der Empfindungsweiſe iſt zum Beyſpiel ſchon aͤuſſerſt auffallend im Euripides, wenn man dieſen mit ſeinen Vorgaͤngern beſonders dem Aeſchylus ver- gleicht, und doch war jener Dichter der Guͤnſtling ſeiner Zeit. Die nehmliche Revolution laͤßt ſich auch unter den alten Hiſtorikern nachweiſen. Horatz, der Dich- ter eines kultivirten und verdorbenen Weltalters preißt die ruhige Gluͤckſeligkeit in ſeinem Tibur, und ihn koͤnnte

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/38>, abgerufen am 29.03.2024.