vermißte der Prinz den Schlüssel zu einer kleinen Schatulle, die sehr wichtige Papiere enthielt. Sogleich kehrten wir um, ihn zu suchen. Er be¬ sann sich auf das genaueste, die Schatulle noch den vorigen Tag verschlossen zu haben, und seit dieser Zeit war er nicht aus dem Zimmer gekommen. Aber alles Suchen war umsonst, wir mußten da¬ von abstehen, um die Zeit nicht zu verlieren. Der Prinz, dessen Seele über jeden Argwohn erhaben war, erklärte ihn für verloren, und bat uns, nicht weiter davon zu sprechen.
Die Fahrt war die angenehmste. Eine mah¬ lerische Landschaft, die mit jeder Krümmung des Flusses sich an Reichthum und Schönheit zu über¬ treffen schien -- der heiterste Himmel, der mitten im Hornung einen Maientag bildete -- reizende Gärten und geschmackvolle Landhäuser ohne Zahl, welche beyde Ufer der Brenta schmücken -- hin¬ ter uns das majestätische Venedig, mit hundert aus dem Wasser springenden Thürmen und Masten, alles dieß gab uns das herrlichste Schauspiel von der Welt. Wir überließen uns ganz dem wohlthä¬ tigen Zauber dieser schönen Natur, unsere Laune war die heiterste, der Prinz selbst verlor seinen Ernst, und wetteiferte mit uns in fröhlichen Scher¬ zen. Eine lustige Musik schallte uns entgegen, als wir zwey italienische Meilen von der Stadt ans Land stiegen. Sie kam aus einem kleinen Dorfe, wo eben Jahrmarkt gehalten wurde; hier wimmelte es von Gesellschaft aller Art. Ein Trupp junger
Mäd¬
vermißte der Prinz den Schlüſſel zu einer kleinen Schatulle, die ſehr wichtige Papiere enthielt. Sogleich kehrten wir um, ihn zu ſuchen. Er be¬ ſann ſich auf das genaueſte, die Schatulle noch den vorigen Tag verſchloſſen zu haben, und ſeit dieſer Zeit war er nicht aus dem Zimmer gekommen. Aber alles Suchen war umſonſt, wir mußten da¬ von abſtehen, um die Zeit nicht zu verlieren. Der Prinz, deſſen Seele über jeden Argwohn erhaben war, erklärte ihn für verloren, und bat uns, nicht weiter davon zu ſprechen.
Die Fahrt war die angenehmſte. Eine mah¬ leriſche Landſchaft, die mit jeder Krümmung des Fluſſes ſich an Reichthum und Schönheit zu über¬ treffen ſchien — der heiterſte Himmel, der mitten im Hornung einen Maientag bildete — reizende Gärten und geſchmackvolle Landhäuſer ohne Zahl, welche beyde Ufer der Brenta ſchmücken — hin¬ ter uns das majeſtätiſche Venedig, mit hundert aus dem Waſſer ſpringenden Thürmen und Maſten, alles dieß gab uns das herrlichſte Schauſpiel von der Welt. Wir überließen uns ganz dem wohlthä¬ tigen Zauber dieſer ſchönen Natur, unſere Laune war die heiterſte, der Prinz ſelbſt verlor ſeinen Ernſt, und wetteiferte mit uns in fröhlichen Scher¬ zen. Eine luſtige Muſik ſchallte uns entgegen, als wir zwey italieniſche Meilen von der Stadt ans Land ſtiegen. Sie kam aus einem kleinen Dorfe, wo eben Jahrmarkt gehalten wurde; hier wimmelte es von Geſellſchaft aller Art. Ein Trupp junger
Mäd¬
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vermißte der Prinz den Schlüſſel zu einer
kleinen Schatulle, die ſehr wichtige Papiere enthielt.
Sogleich kehrten wir um, ihn zu ſuchen. Er be¬
ſann ſich auf das genaueſte, die Schatulle noch den
vorigen Tag verſchloſſen zu haben, und ſeit dieſer
Zeit war er nicht aus dem Zimmer gekommen.
Aber alles Suchen war umſonſt, wir mußten da¬
von abſtehen, um die Zeit nicht zu verlieren. Der
Prinz, deſſen Seele über jeden Argwohn erhaben
war, erklärte ihn für verloren, und bat uns, nicht
weiter davon zu ſprechen.
Die Fahrt war die angenehmſte. Eine mah¬
leriſche Landſchaft, die mit jeder Krümmung des
Fluſſes ſich an Reichthum und Schönheit zu über¬
treffen ſchien — der heiterſte Himmel, der mitten
im Hornung einen Maientag bildete — reizende
Gärten und geſchmackvolle Landhäuſer ohne Zahl,
welche beyde Ufer der Brenta ſchmücken — hin¬
ter uns das majeſtätiſche Venedig, mit hundert aus
dem Waſſer ſpringenden Thürmen und Maſten,
alles dieß gab uns das herrlichſte Schauſpiel von
der Welt. Wir überließen uns ganz dem wohlthä¬
tigen Zauber dieſer ſchönen Natur, unſere Laune
war die heiterſte, der Prinz ſelbſt verlor ſeinen
Ernſt, und wetteiferte mit uns in fröhlichen Scher¬
zen. Eine luſtige Muſik ſchallte uns entgegen, als
wir zwey italieniſche Meilen von der Stadt ans Land
ſtiegen. Sie kam aus einem kleinen Dorfe, wo
eben Jahrmarkt gehalten wurde; hier wimmelte
es von Geſellſchaft aller Art. Ein Trupp junger
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Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/23>, abgerufen am 16.02.2025.
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