ihre eigenen Kinder verzehren, wäre sie selbst nur, überlebte sie auch nur die vergangene Sekun¬ de! -- Ein unermeßlicher Baum steht sie da im unermeßlichen Raume. Die Weisheit und die Tugend ganzer Generationen rinnen wie Säfte in seinen Röhren, Jahrtausende und die Nationen, die darin Geräusch machten, fallen wie welke Blü¬ then, wie verdorrte Blätter von seinen Zweigen, die er mit innrer und unvergänglicher Zeugungs¬ kraft aus dem Stamme treibt. Kannst du von ihr verlangen, was sie selbst nicht besitzet? Du eine Furche, die der Wind in die Meeresfläche bläßt, deines Daseyns Spur darin zu sichern verlangen?"
Diese trostlose Behauptung widerlegt schon die Weltgeschichte. Die Namen Lykurg, Sokrates, Aristides haben ihre Werke überdauert.
"Und der nützliche Mann, der den Pflug zu¬ sammensezte -- wie hieß der? Trauen Sie einer Belohnerinn, die nicht gerecht ist? Sie leben in der Geschichte, wie Mumien im Balsam, um mit ihrer Geschichte etwas später zu vergehen."
Und dieser Trieb zur ewigen Fortdauer? Kann oder darf ihre Nothwendigkeit verschwenden? Durfte in der Kraft etwas seyn, dem nichts in der Wirkung entspräche?
"O in dieser Wirkung eben liegt alles. Ver¬ schwenden? Steigt nicht auch der Wasserstrahl in der Cascade mit einer Kraft in die Höhe, die ihn durch einen unendlichen Raum schlendern könnte? Aber schon in ersten Moment seines Aufsprungs zieht die Schwerkraft an ihm, drücken tausend Lustsäu¬
len
d. Geisterseher. J
ihre eigenen Kinder verzehren, wäre ſie ſelbſt nur, überlebte ſie auch nur die vergangene Sekun¬ de! — Ein unermeßlicher Baum ſteht ſie da im unermeßlichen Raume. Die Weisheit und die Tugend ganzer Generationen rinnen wie Säfte in ſeinen Röhren, Jahrtauſende und die Nationen, die darin Geräuſch machten, fallen wie welke Blü¬ then, wie verdorrte Blätter von ſeinen Zweigen, die er mit innrer und unvergänglicher Zeugungs¬ kraft aus dem Stamme treibt. Kannſt du von ihr verlangen, was ſie ſelbſt nicht beſitzet? Du eine Furche, die der Wind in die Meeresfläche bläßt, deines Daſeyns Spur darin zu ſichern verlangen?“
Dieſe troſtloſe Behauptung widerlegt ſchon die Weltgeſchichte. Die Namen Lykurg, Sokrates, Ariſtides haben ihre Werke überdauert.
„Und der nützliche Mann, der den Pflug zu¬ ſammenſezte — wie hieß der? Trauen Sie einer Belohnerinn, die nicht gerecht iſt? Sie leben in der Geſchichte, wie Mumien im Balſam, um mit ihrer Geſchichte etwas ſpäter zu vergehen.“
Und dieſer Trieb zur ewigen Fortdauer? Kann oder darf ihre Nothwendigkeit verſchwenden? Durfte in der Kraft etwas ſeyn, dem nichts in der Wirkung entſpräche?
„O in dieſer Wirkung eben liegt alles. Ver¬ ſchwenden? Steigt nicht auch der Waſſerſtrahl in der Caſcade mit einer Kraft in die Höhe, die ihn durch einen unendlichen Raum ſchlendern könnte? Aber ſchon in erſten Moment ſeines Aufſprungs zieht die Schwerkraft an ihm, drücken tauſend Luſtſäu¬
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d. Geiſterſeher. J
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ihre eigenen Kinder verzehren, wäre ſie ſelbſt
nur, überlebte ſie auch nur die vergangene Sekun¬
de! — Ein unermeßlicher Baum ſteht ſie da im
unermeßlichen Raume. Die Weisheit und die
Tugend ganzer Generationen rinnen wie Säfte in
ſeinen Röhren, Jahrtauſende und die Nationen,
die darin Geräuſch machten, fallen wie welke Blü¬
then, wie verdorrte Blätter von ſeinen Zweigen,
die er mit innrer und unvergänglicher Zeugungs¬
kraft aus dem Stamme treibt. Kannſt du von ihr
verlangen, was ſie ſelbſt nicht beſitzet? Du eine
Furche, die der Wind in die Meeresfläche bläßt,
deines Daſeyns Spur darin zu ſichern verlangen?“
Dieſe troſtloſe Behauptung widerlegt ſchon die
Weltgeſchichte. Die Namen Lykurg, Sokrates,
Ariſtides haben ihre Werke überdauert.
„Und der nützliche Mann, der den Pflug zu¬
ſammenſezte — wie hieß der? Trauen Sie einer
Belohnerinn, die nicht gerecht iſt? Sie leben
in der Geſchichte, wie Mumien im Balſam, um
mit ihrer Geſchichte etwas ſpäter zu vergehen.“
Und dieſer Trieb zur ewigen Fortdauer? Kann
oder darf ihre Nothwendigkeit verſchwenden?
Durfte in der Kraft etwas ſeyn, dem nichts in
der Wirkung entſpräche?
„O in dieſer Wirkung eben liegt alles. Ver¬
ſchwenden? Steigt nicht auch der Waſſerſtrahl in
der Caſcade mit einer Kraft in die Höhe, die ihn
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Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/137>, abgerufen am 16.02.2025.
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