Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124.keine Gewalt erschrecken darf, entwaffnet die holde Röthe der Scham, und Thränen ersticken eine Rache, die kein Blut löschen konnte. Selbst der Haß merkt auf der Ehre zarte Stimme, das Schwerdt des Überwinders verschont den entwaffneten Feind, und ein gastlicher Heerd raucht dem Fremdling an der gefürchteten Küste, wo ihn sonst nur der Mord empfieng. Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen entbindet. Wenn in dem dynamischen Staat der Rechte der Mensch dem Menschen als Kraft begegnet und sein Wirken beschränkt - wenn er sich ihm in dem ethischen Staat der Pflichten mit der Majestät des Gesetzes entgegenstellt, und sein Wollen fesselt, so darf er ihm im Kreise des schönen Umgangs, in dem ästhetischen Staat, nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freyen Spiels gegenüber stehen. Freyheit zu geben durch Freyheit ist das Grundgesetz dieses Reichs. Hier darf weder das Einzelne mit dem Ganzen, noch das Ganze mit dem Einzelnen streiten. Nicht, weil das eine nachgiebt, darf das andre mächtig seyn; hier darf es nur Sieger, aber keinen Besiegten geben. Der dynamische Staat kann die Gesellschaft bloß möglich machen, indem er die Natur durch Natur be- keine Gewalt erschrecken darf, entwaffnet die holde Röthe der Scham, und Thränen ersticken eine Rache, die kein Blut löschen konnte. Selbst der Haß merkt auf der Ehre zarte Stimme, das Schwerdt des Überwinders verschont den entwaffneten Feind, und ein gastlicher Heerd raucht dem Fremdling an der gefürchteten Küste, wo ihn sonst nur der Mord empfieng. Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen entbindet. Wenn in dem dynamischen Staat der Rechte der Mensch dem Menschen als Kraft begegnet und sein Wirken beschränkt – wenn er sich ihm in dem ethischen Staat der Pflichten mit der Majestät des Gesetzes entgegenstellt, und sein Wollen fesselt, so darf er ihm im Kreise des schönen Umgangs, in dem ästhetischen Staat, nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freyen Spiels gegenüber stehen. Freyheit zu geben durch Freyheit ist das Grundgesetz dieses Reichs. Hier darf weder das Einzelne mit dem Ganzen, noch das Ganze mit dem Einzelnen streiten. Nicht, weil das eine nachgiebt, darf das andre mächtig seyn; hier darf es nur Sieger, aber keinen Besiegten geben. Der dynamische Staat kann die Gesellschaft bloß möglich machen, indem er die Natur durch Natur be- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0076" n="120"/> keine Gewalt erschrecken darf, entwaffnet die holde Röthe der Scham, und Thränen ersticken eine Rache, die kein Blut löschen konnte. Selbst der Haß merkt auf der Ehre zarte Stimme, das Schwerdt des Überwinders verschont den entwaffneten Feind, und ein gastlicher Heerd raucht dem Fremdling an der gefürchteten Küste, wo ihn sonst nur der Mord empfieng.</p> <p>Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen entbindet.</p> <p>Wenn in dem dynamischen Staat der Rechte der Mensch dem Menschen als Kraft begegnet und sein Wirken beschränkt – wenn er sich ihm in dem ethischen Staat der Pflichten mit der Majestät des Gesetzes entgegenstellt, und sein Wollen fesselt, so darf er ihm im Kreise des schönen Umgangs, in dem ästhetischen Staat, nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freyen Spiels gegenüber stehen. Freyheit zu geben durch Freyheit ist das Grundgesetz dieses Reichs. Hier darf weder das Einzelne mit dem Ganzen, noch das Ganze mit dem Einzelnen streiten. Nicht, weil das eine nachgiebt, darf das andre mächtig seyn; hier darf es nur Sieger, aber keinen Besiegten geben.</p> <p>Der dynamische Staat kann die Gesellschaft bloß möglich machen, indem er die Natur durch Natur be- </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [120/0076]
keine Gewalt erschrecken darf, entwaffnet die holde Röthe der Scham, und Thränen ersticken eine Rache, die kein Blut löschen konnte. Selbst der Haß merkt auf der Ehre zarte Stimme, das Schwerdt des Überwinders verschont den entwaffneten Feind, und ein gastlicher Heerd raucht dem Fremdling an der gefürchteten Küste, wo ihn sonst nur der Mord empfieng.
Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen entbindet.
Wenn in dem dynamischen Staat der Rechte der Mensch dem Menschen als Kraft begegnet und sein Wirken beschränkt – wenn er sich ihm in dem ethischen Staat der Pflichten mit der Majestät des Gesetzes entgegenstellt, und sein Wollen fesselt, so darf er ihm im Kreise des schönen Umgangs, in dem ästhetischen Staat, nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freyen Spiels gegenüber stehen. Freyheit zu geben durch Freyheit ist das Grundgesetz dieses Reichs. Hier darf weder das Einzelne mit dem Ganzen, noch das Ganze mit dem Einzelnen streiten. Nicht, weil das eine nachgiebt, darf das andre mächtig seyn; hier darf es nur Sieger, aber keinen Besiegten geben.
Der dynamische Staat kann die Gesellschaft bloß möglich machen, indem er die Natur durch Natur be-
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Zitationshilfe: | Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124, hier S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung03_1795/76>, abgerufen am 16.02.2025. |