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Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124.

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Die Natur selbst ist es, die den Menschen von der Realität zum Scheine emporhebt, indem sie ihn mit zwey Sinnen ausrüstete, die ihn bloß durch den Schein zur Erkenntniß des Wirklichen führen. In dem Auge und dem Ohr ist die andringende Materie schon hinweggewälzt von den Sinnen, und das Objekt entfernt sich von uns, das wir in den thierischen Sinnen unmittelbar berühren. Was wir durch das Auge sehen, ist von dem verschieden, was wir empfinden; denn der Verstand springt über das Licht hinaus zu den Gegenständen. Der Gegenstand des Takts ist eine Gewalt, die wir erleiden; der Gegenstand des Auges und des Ohrs ist eine Form, die wir erzeugen. Solange der Mensch noch ein Wilder ist, genießt er bloß mit den Sinnen des Gefühls, denen die Sinne des Scheins in dieser Periode bloß dienen. Er erhebt sich entweder gar nicht zum Sehen, oder er befriedigt sich doch nicht mit demselben. Sobald er an-

weil man nie Gefahr läuft, ihn derselben unterzuschieben, was doch die einzige Art ist, wie der Wahrheit geschadet werden kann; ihn verachten, heißt alle schöne Kunst überhaupt verachten, deren Wesen der Schein ist. Indessen begegnet es dem Verstande zuweilen, seinen Eifer für Realität bis zu einer solchen Unduldsamkeit zu treiben, und über die ganze Kunst des schönen Scheins, weil sie bloß Schein ist, ein wegwerfendes Urtheil zu sprechen; dieß begegnet aber dem Verstande nur alsdann, wenn er sich der obengedachten Affinität nicht erinnert. Von den nothwendigen Grenzen des schönen Scheins werde ich noch einmal insbesondere zu reden Veranlassung nehmen.

Die Natur selbst ist es, die den Menschen von der Realität zum Scheine emporhebt, indem sie ihn mit zwey Sinnen ausrüstete, die ihn bloß durch den Schein zur Erkenntniß des Wirklichen führen. In dem Auge und dem Ohr ist die andringende Materie schon hinweggewälzt von den Sinnen, und das Objekt entfernt sich von uns, das wir in den thierischen Sinnen unmittelbar berühren. Was wir durch das Auge sehen, ist von dem verschieden, was wir empfinden; denn der Verstand springt über das Licht hinaus zu den Gegenständen. Der Gegenstand des Takts ist eine Gewalt, die wir erleiden; der Gegenstand des Auges und des Ohrs ist eine Form, die wir erzeugen. Solange der Mensch noch ein Wilder ist, genießt er bloß mit den Sinnen des Gefühls, denen die Sinne des Scheins in dieser Periode bloß dienen. Er erhebt sich entweder gar nicht zum Sehen, oder er befriedigt sich doch nicht mit demselben. Sobald er an-

weil man nie Gefahr läuft, ihn derselben unterzuschieben, was doch die einzige Art ist, wie der Wahrheit geschadet werden kann; ihn verachten, heißt alle schöne Kunst überhaupt verachten, deren Wesen der Schein ist. Indessen begegnet es dem Verstande zuweilen, seinen Eifer für Realität bis zu einer solchen Unduldsamkeit zu treiben, und über die ganze Kunst des schönen Scheins, weil sie bloß Schein ist, ein wegwerfendes Urtheil zu sprechen; dieß begegnet aber dem Verstande nur alsdann, wenn er sich der obengedachten Affinität nicht erinnert. Von den nothwendigen Grenzen des schönen Scheins werde ich noch einmal insbesondere zu reden Veranlassung nehmen.
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[105/0061] Die Natur selbst ist es, die den Menschen von der Realität zum Scheine emporhebt, indem sie ihn mit zwey Sinnen ausrüstete, die ihn bloß durch den Schein zur Erkenntniß des Wirklichen führen. In dem Auge und dem Ohr ist die andringende Materie schon hinweggewälzt von den Sinnen, und das Objekt entfernt sich von uns, das wir in den thierischen Sinnen unmittelbar berühren. Was wir durch das Auge sehen, ist von dem verschieden, was wir empfinden; denn der Verstand springt über das Licht hinaus zu den Gegenständen. Der Gegenstand des Takts ist eine Gewalt, die wir erleiden; der Gegenstand des Auges und des Ohrs ist eine Form, die wir erzeugen. Solange der Mensch noch ein Wilder ist, genießt er bloß mit den Sinnen des Gefühls, denen die Sinne des Scheins in dieser Periode bloß dienen. Er erhebt sich entweder gar nicht zum Sehen, oder er befriedigt sich doch nicht mit demselben. Sobald er an- * * weil man nie Gefahr läuft, ihn derselben unterzuschieben, was doch die einzige Art ist, wie der Wahrheit geschadet werden kann; ihn verachten, heißt alle schöne Kunst überhaupt verachten, deren Wesen der Schein ist. Indessen begegnet es dem Verstande zuweilen, seinen Eifer für Realität bis zu einer solchen Unduldsamkeit zu treiben, und über die ganze Kunst des schönen Scheins, weil sie bloß Schein ist, ein wegwerfendes Urtheil zu sprechen; dieß begegnet aber dem Verstande nur alsdann, wenn er sich der obengedachten Affinität nicht erinnert. Von den nothwendigen Grenzen des schönen Scheins werde ich noch einmal insbesondere zu reden Veranlassung nehmen.

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124, hier S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung03_1795/61>, abgerufen am 04.05.2024.