Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124.Zwanzigster Brief. Daß auf die Freyheit nicht gewirkt werden könne, ergiebt sich schon aus ihrem bloßen Begriff; daß aber die Freyheit selbst eine Wirkung der Natur (dieses Wort in seinem weitesten Sinne genommen) kein Werk des Menschen sey, daß sie also auch durch natürliche Mittel befördert und gehemmt werden könne, folgt gleich nothwendig aus dem vorigen. Sie nimmt ihren Anfang erst, wenn der Mensch vollständig ist, und seine beyden Grundtriebe sich entwickelt haben; sie muß also fehlen, so lang er unvollständig und einer von beyden Trieben ausgeschlossen ist, und muß durch alles das, was ihm seine Vollständigkeit zurückgiebt, wieder hergestellt werden können. Nun lässt sich wirklich, sowohl in der ganzen Gattung als in dem einzelnen Menschen, ein Moment aufzeigen, in welchem der Mensch noch nicht vollständig und einer von beyden Trieben ausschließend in ihm thätig ist. Wir wissen, daß er anfängt mit bloßem Leben, um zu endigen mit Form; daß er früher Individuum als Person ist, daß er von den Schranken aus zur Unendlichkeit geht. Der sinnliche Trieb kommt also früher als der vernünftige zur Wirkung, weil die Empfindung dem Bewußtseyn vorhergeht, und in dieser Priorität des Sachtriebes finden wir den Aufschluß zu der ganzen Geschichte der menschlichen Freyheit. Denn es giebt nun einen Moment, wo der Lebens- Zwanzigster Brief. Daß auf die Freyheit nicht gewirkt werden könne, ergiebt sich schon aus ihrem bloßen Begriff; daß aber die Freyheit selbst eine Wirkung der Natur (dieses Wort in seinem weitesten Sinne genommen) kein Werk des Menschen sey, daß sie also auch durch natürliche Mittel befördert und gehemmt werden könne, folgt gleich nothwendig aus dem vorigen. Sie nimmt ihren Anfang erst, wenn der Mensch vollständig ist, und seine beyden Grundtriebe sich entwickelt haben; sie muß also fehlen, so lang er unvollständig und einer von beyden Trieben ausgeschlossen ist, und muß durch alles das, was ihm seine Vollständigkeit zurückgiebt, wieder hergestellt werden können. Nun lässt sich wirklich, sowohl in der ganzen Gattung als in dem einzelnen Menschen, ein Moment aufzeigen, in welchem der Mensch noch nicht vollständig und einer von beyden Trieben ausschließend in ihm thätig ist. Wir wissen, daß er anfängt mit bloßem Leben, um zu endigen mit Form; daß er früher Individuum als Person ist, daß er von den Schranken aus zur Unendlichkeit geht. Der sinnliche Trieb kommt also früher als der vernünftige zur Wirkung, weil die Empfindung dem Bewußtseyn vorhergeht, und in dieser Priorität des Sachtriebes finden wir den Aufschluß zu der ganzen Geschichte der menschlichen Freyheit. Denn es giebt nun einen Moment, wo der Lebens- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0018" n="62"/> <head> <hi rendition="#g">Zwanzigster Brief.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">D</hi>aß auf die Freyheit nicht gewirkt werden könne, ergiebt sich schon aus ihrem bloßen Begriff; daß aber die Freyheit selbst eine Wirkung der Natur (dieses Wort in seinem weitesten Sinne genommen) kein Werk des Menschen sey, daß sie also auch durch natürliche Mittel befördert und gehemmt werden könne, folgt gleich nothwendig aus dem vorigen. Sie nimmt ihren Anfang erst, wenn der Mensch vollständig ist, und seine beyden Grundtriebe sich entwickelt haben; sie muß also fehlen, so lang er unvollständig und einer von beyden Trieben ausgeschlossen ist, und muß durch alles das, was ihm seine Vollständigkeit zurückgiebt, wieder hergestellt werden können.</p> <p>Nun lässt sich wirklich, sowohl in der ganzen Gattung als in dem einzelnen Menschen, ein Moment aufzeigen, in welchem der Mensch noch nicht vollständig und einer von beyden Trieben ausschließend in ihm thätig ist. Wir wissen, daß er anfängt mit bloßem Leben, um zu endigen mit Form; daß er früher Individuum als Person ist, daß er von den Schranken aus zur Unendlichkeit geht. Der sinnliche Trieb kommt also früher als der vernünftige zur Wirkung, weil die Empfindung dem Bewußtseyn vorhergeht, und in dieser Priorität des Sachtriebes finden wir den Aufschluß zu der ganzen Geschichte der menschlichen Freyheit.</p> <p>Denn es giebt nun einen Moment, wo der Lebens- </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [62/0018]
Zwanzigster Brief.
Daß auf die Freyheit nicht gewirkt werden könne, ergiebt sich schon aus ihrem bloßen Begriff; daß aber die Freyheit selbst eine Wirkung der Natur (dieses Wort in seinem weitesten Sinne genommen) kein Werk des Menschen sey, daß sie also auch durch natürliche Mittel befördert und gehemmt werden könne, folgt gleich nothwendig aus dem vorigen. Sie nimmt ihren Anfang erst, wenn der Mensch vollständig ist, und seine beyden Grundtriebe sich entwickelt haben; sie muß also fehlen, so lang er unvollständig und einer von beyden Trieben ausgeschlossen ist, und muß durch alles das, was ihm seine Vollständigkeit zurückgiebt, wieder hergestellt werden können.
Nun lässt sich wirklich, sowohl in der ganzen Gattung als in dem einzelnen Menschen, ein Moment aufzeigen, in welchem der Mensch noch nicht vollständig und einer von beyden Trieben ausschließend in ihm thätig ist. Wir wissen, daß er anfängt mit bloßem Leben, um zu endigen mit Form; daß er früher Individuum als Person ist, daß er von den Schranken aus zur Unendlichkeit geht. Der sinnliche Trieb kommt also früher als der vernünftige zur Wirkung, weil die Empfindung dem Bewußtseyn vorhergeht, und in dieser Priorität des Sachtriebes finden wir den Aufschluß zu der ganzen Geschichte der menschlichen Freyheit.
Denn es giebt nun einen Moment, wo der Lebens-
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Zitationshilfe: | Schiller, Friedrich: Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. [3. Teil; 17. bis 27. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 2, 6. Stück. Tübingen, 1795, S. 45–124, hier S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung03_1795/18>, abgerufen am 03.07.2024. |