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Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94.

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Dreyzehenter Brief.

Beym ersten Anblick scheint nichts einander mehr entgegen gesetzt zu sein, als die Tendenzen dieser beyden Triebe, indem der eine auf Veränderung, der andre auf Unveränderlichkeit dringt. Und doch sind es diese beyden Triebe, die den Begriff der Menschheit erschöpfen, und ein dritter Grundtrieb, der beyde vermitteln könnte, ist schlechterdings ein undenkbarer Begriff. Wie werden wir also die Einheit der menschlichen Natur wieder herstellen, die durch diese ursprüngliche und radikale Entgegensetzung völlig aufgehoben scheint?

Wahr ist es, ihre Tendenzen widersprechen sich, aber was wohl zu bemerken ist, nicht in denselben Objekten, und was nicht aufeinander trift, kann nicht gegeneinander stossen. Der Sachtrieb fodert zwar Veränderung, aber er fodert nicht, daß sie auch auf die Person und ihr Gebiet sich erstrecke: daß ein Wechsel der Grundsätze sey. Der Formtrieb dringt auf Einheit und Beharrlichkeit - aber er will nicht, daß mit der Person sich auch der Zustand fixiere, daß Identität der Empfindung sey. Sie sind einander also von Natur nicht entgegengesetzt, und wenn sie demohngeachtet so erscheinen, so sind sie es erst geworden durch eine freye Übertretung der Natur, indem sie sich selbst misverstehen, und ihre Sphären verwirren.* Ueber diese zu wachen, und einem jeden

* Sobald man einen ursprünglichen, mithin nothwendigen Antagonism beyder Triebe behauptet, so ist freylich kein anderes
Dreyzehenter Brief.

Beym ersten Anblick scheint nichts einander mehr entgegen gesetzt zu sein, als die Tendenzen dieser beyden Triebe, indem der eine auf Veränderung, der andre auf Unveränderlichkeit dringt. Und doch sind es diese beyden Triebe, die den Begriff der Menschheit erschöpfen, und ein dritter Grundtrieb, der beyde vermitteln könnte, ist schlechterdings ein undenkbarer Begriff. Wie werden wir also die Einheit der menschlichen Natur wieder herstellen, die durch diese ursprüngliche und radikale Entgegensetzung völlig aufgehoben scheint?

Wahr ist es, ihre Tendenzen widersprechen sich, aber was wohl zu bemerken ist, nicht in denselben Objekten, und was nicht aufeinander trift, kann nicht gegeneinander stossen. Der Sachtrieb fodert zwar Veränderung, aber er fodert nicht, daß sie auch auf die Person und ihr Gebiet sich erstrecke: daß ein Wechsel der Grundsätze sey. Der Formtrieb dringt auf Einheit und Beharrlichkeit – aber er will nicht, daß mit der Person sich auch der Zustand fixiere, daß Identität der Empfindung sey. Sie sind einander also von Natur nicht entgegengesetzt, und wenn sie demohngeachtet so erscheinen, so sind sie es erst geworden durch eine freye Übertretung der Natur, indem sie sich selbst misverstehen, und ihre Sphären verwirren.* Ueber diese zu wachen, und einem jeden

* Sobald man einen ursprünglichen, mithin nothwendigen Antagonism beyder Triebe behauptet, so ist freylich kein anderes
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[69/0019] Dreyzehenter Brief. Beym ersten Anblick scheint nichts einander mehr entgegen gesetzt zu sein, als die Tendenzen dieser beyden Triebe, indem der eine auf Veränderung, der andre auf Unveränderlichkeit dringt. Und doch sind es diese beyden Triebe, die den Begriff der Menschheit erschöpfen, und ein dritter Grundtrieb, der beyde vermitteln könnte, ist schlechterdings ein undenkbarer Begriff. Wie werden wir also die Einheit der menschlichen Natur wieder herstellen, die durch diese ursprüngliche und radikale Entgegensetzung völlig aufgehoben scheint? Wahr ist es, ihre Tendenzen widersprechen sich, aber was wohl zu bemerken ist, nicht in denselben Objekten, und was nicht aufeinander trift, kann nicht gegeneinander stossen. Der Sachtrieb fodert zwar Veränderung, aber er fodert nicht, daß sie auch auf die Person und ihr Gebiet sich erstrecke: daß ein Wechsel der Grundsätze sey. Der Formtrieb dringt auf Einheit und Beharrlichkeit – aber er will nicht, daß mit der Person sich auch der Zustand fixiere, daß Identität der Empfindung sey. Sie sind einander also von Natur nicht entgegengesetzt, und wenn sie demohngeachtet so erscheinen, so sind sie es erst geworden durch eine freye Übertretung der Natur, indem sie sich selbst misverstehen, und ihre Sphären verwirren. * Ueber diese zu wachen, und einem jeden * Sobald man einen ursprünglichen, mithin nothwendigen Antagonism beyder Triebe behauptet, so ist freylich kein anderes

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. [2. Teil; 10. bis 16. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 2. Stück. Tübingen, 1795, S. 51–94, hier S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung02_1795/19>, abgerufen am 25.11.2024.