Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48.Sechster Brief. Sollte ich mit dieser Schilderung dem Zeitalter wohl zuviel gethan haben? Ich erwarte diesen Einwurf nicht, eher einen andern: daß ich zuviel dadurch bewiesen habe. Dieses Gemählde, werden Sie mir sagen, gleicht zwar der gegenwärtigen Menschheit, aber es gleicht überhaupt allen Völkern, die in der Kultur begriffen sind, weil alle ohne Unterschied durch Vernünfteley von der Natur abfallen müssen, ehe sie durch Vernunft zu ihr zurückkehren können. Aber bey einiger Aufmerksamkeit auf den Zeitcharakter muß uns der Kontrast in Verwunderung setzen, der zwischen der heutigen Form der Menschheit, und zwischen der ehemaligen; besonders der griechischen, angetroffen wird. Der Ruhm der Ausbildung und Verfeinerung, den wir mit Recht gegen jede andere blosse Natur geltend machen, kann uns gegen die griechische Natur nicht zu statten kommen, die sich mit allen Reizen der Kunst und mit aller Würde der Weisheit vermählte, ohne doch, wie die unsrige, das Opfer derselben zu seyn. Die Griechen beschämen uns nicht bloß durch eine Simplicität, die unserm Zeitalter fremd ist; sie sind zugleich unsre Nebenbuhler, ja oft unsre Muster in den nehmlichen Vorzügen, mit denen wir uns über die Naturwidrigkeit unsrer Sitten zu trösten pflegen. Zugleich voll Form und voll Fülle, zugleich philosophierend und bildend, zugleich zart und energisch sehen wir sie die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen. Sechster Brief. Sollte ich mit dieser Schilderung dem Zeitalter wohl zuviel gethan haben? Ich erwarte diesen Einwurf nicht, eher einen andern: daß ich zuviel dadurch bewiesen habe. Dieses Gemählde, werden Sie mir sagen, gleicht zwar der gegenwärtigen Menschheit, aber es gleicht überhaupt allen Völkern, die in der Kultur begriffen sind, weil alle ohne Unterschied durch Vernünfteley von der Natur abfallen müssen, ehe sie durch Vernunft zu ihr zurückkehren können. Aber bey einiger Aufmerksamkeit auf den Zeitcharakter muß uns der Kontrast in Verwunderung setzen, der zwischen der heutigen Form der Menschheit, und zwischen der ehemaligen; besonders der griechischen, angetroffen wird. Der Ruhm der Ausbildung und Verfeinerung, den wir mit Recht gegen jede andere blosse Natur geltend machen, kann uns gegen die griechische Natur nicht zu statten kommen, die sich mit allen Reizen der Kunst und mit aller Würde der Weisheit vermählte, ohne doch, wie die unsrige, das Opfer derselben zu seyn. Die Griechen beschämen uns nicht bloß durch eine Simplicität, die unserm Zeitalter fremd ist; sie sind zugleich unsre Nebenbuhler, ja oft unsre Muster in den nehmlichen Vorzügen, mit denen wir uns über die Naturwidrigkeit unsrer Sitten zu trösten pflegen. Zugleich voll Form und voll Fülle, zugleich philosophierend und bildend, zugleich zart und energisch sehen wir sie die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0019" n="25"/> <head> <hi rendition="#g">Sechster Brief.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">S</hi>ollte ich mit dieser Schilderung dem Zeitalter wohl zuviel gethan haben? Ich erwarte diesen Einwurf nicht, eher einen andern: daß ich zuviel dadurch bewiesen habe. Dieses Gemählde, werden Sie mir sagen, gleicht zwar der gegenwärtigen Menschheit, aber es gleicht überhaupt allen Völkern, die in der Kultur begriffen sind, weil alle ohne Unterschied durch Vernünfteley von der Natur abfallen müssen, ehe sie durch Vernunft zu ihr zurückkehren können.</p> <p>Aber bey einiger Aufmerksamkeit auf den Zeitcharakter muß uns der Kontrast in Verwunderung setzen, der zwischen der heutigen Form der Menschheit, und zwischen der ehemaligen; besonders der griechischen, angetroffen wird. Der Ruhm der Ausbildung und Verfeinerung, den wir mit Recht gegen jede andere <hi rendition="#g">blosse</hi> Natur geltend machen, kann uns gegen die griechische Natur nicht zu statten kommen, die sich mit allen Reizen der Kunst und mit aller Würde der Weisheit vermählte, ohne doch, wie die unsrige, das Opfer derselben zu seyn. Die Griechen beschämen uns nicht bloß durch eine Simplicität, die unserm Zeitalter fremd ist; sie sind zugleich unsre Nebenbuhler, ja oft unsre Muster in den nehmlichen Vorzügen, mit denen wir uns über die Naturwidrigkeit unsrer Sitten zu trösten pflegen. Zugleich voll Form und voll Fülle, zugleich philosophierend und bildend, zugleich zart und energisch sehen wir sie die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen.</p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [25/0019]
Sechster Brief.
Sollte ich mit dieser Schilderung dem Zeitalter wohl zuviel gethan haben? Ich erwarte diesen Einwurf nicht, eher einen andern: daß ich zuviel dadurch bewiesen habe. Dieses Gemählde, werden Sie mir sagen, gleicht zwar der gegenwärtigen Menschheit, aber es gleicht überhaupt allen Völkern, die in der Kultur begriffen sind, weil alle ohne Unterschied durch Vernünfteley von der Natur abfallen müssen, ehe sie durch Vernunft zu ihr zurückkehren können.
Aber bey einiger Aufmerksamkeit auf den Zeitcharakter muß uns der Kontrast in Verwunderung setzen, der zwischen der heutigen Form der Menschheit, und zwischen der ehemaligen; besonders der griechischen, angetroffen wird. Der Ruhm der Ausbildung und Verfeinerung, den wir mit Recht gegen jede andere blosse Natur geltend machen, kann uns gegen die griechische Natur nicht zu statten kommen, die sich mit allen Reizen der Kunst und mit aller Würde der Weisheit vermählte, ohne doch, wie die unsrige, das Opfer derselben zu seyn. Die Griechen beschämen uns nicht bloß durch eine Simplicität, die unserm Zeitalter fremd ist; sie sind zugleich unsre Nebenbuhler, ja oft unsre Muster in den nehmlichen Vorzügen, mit denen wir uns über die Naturwidrigkeit unsrer Sitten zu trösten pflegen. Zugleich voll Form und voll Fülle, zugleich philosophierend und bildend, zugleich zart und energisch sehen wir sie die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen.
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Zitationshilfe: | Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. [1. Teil; 1. bis 9. Brief.] In: Friedrich Schiller (Hrsg.): Die Horen, Band 1, 1. Stück. Tübingen, 1795, S. 7–48, hier S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_erziehung01_1795/19>, abgerufen am 16.02.2025. |