psc_063.001 sollte man meinen, daß ein solcher Mann die Forderung erfüllt psc_063.002 haben werde; man findet sich aber enttäuscht. Zwar psc_063.003 viel werthvolles Material, aber der gedankliche Theil recht psc_063.004 schwach, und mit dem Material allein ist nicht viel anzufangen. psc_063.005 Die Sache ist wesentlich noch zu machen.
psc_063.006
Die Aufgabe der früheren Poetik, die wahre Poesie psc_063.007 zu suchen, hat sich als unlösbar erwiesen. Sie hat die wechselnden psc_063.008 Geschmacksrichtungen niemals zu beherrschen vermocht, psc_063.009 sie hat vielmehr oft unwillkürlich nur die Geschmacksrichtungen psc_063.010 abgespiegelt, nur Versuche gemacht, das in der Praxis Herrschende psc_063.011 zu rechtfertigen. Oder aber sie war ohnmächtig, war psc_063.012 doch jedenfalls nicht im Stande so einleuchtende Beweise beizubringen, psc_063.013 daß man sich ihr gefügt hätte. So ist z. B. die psc_063.014 Kritik gegenüber dem jetzigen Naturalismus ohnmächtig... psc_063.015 Sie hat nach dem Guten in der Kunst gestrebt und wollte psc_063.016 das Schlechte bekämpfen; aber sie hat keine festen Maßstäbe psc_063.017 gefunden zur Scheidung zwischen Gut und Schlecht... Sie psc_063.018 hat sich deshalb schon entschließen müssen, seit Schiller, nicht psc_063.019 mehr alle Erscheinungen auf den Unterschied von Gut und psc_063.020 Schlecht zurückgehen zu lassen und so weit wenigstens jenes psc_063.021 Suchen nach der reinen wahren Poesie aufzugeben, daß sie psc_063.022 die Gegensätze zwischen Naiv und Sentimental, Klassisch und psc_063.023 Romantisch, also Stilunterschiede, als quasi=gleichberechtigt psc_063.024 nebeneinander stellte. Auf diese Weise hat man einen Stilgegensatz psc_063.025 der Classification zu Grunde gelegt; und sogar psc_063.026 Vischer hat den Gegensatz "Klassisch" und "Romantisch" psc_063.027 durch seine ganze Aesthetik durchgeführt, hierin der Erbe der psc_063.028 romantischen Doctrin.
psc_063.001 sollte man meinen, daß ein solcher Mann die Forderung erfüllt psc_063.002 haben werde; man findet sich aber enttäuscht. Zwar psc_063.003 viel werthvolles Material, aber der gedankliche Theil recht psc_063.004 schwach, und mit dem Material allein ist nicht viel anzufangen. psc_063.005 Die Sache ist wesentlich noch zu machen.
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Die Aufgabe der früheren Poetik, die wahre Poesie psc_063.007 zu suchen, hat sich als unlösbar erwiesen. Sie hat die wechselnden psc_063.008 Geschmacksrichtungen niemals zu beherrschen vermocht, psc_063.009 sie hat vielmehr oft unwillkürlich nur die Geschmacksrichtungen psc_063.010 abgespiegelt, nur Versuche gemacht, das in der Praxis Herrschende psc_063.011 zu rechtfertigen. Oder aber sie war ohnmächtig, war psc_063.012 doch jedenfalls nicht im Stande so einleuchtende Beweise beizubringen, psc_063.013 daß man sich ihr gefügt hätte. So ist z. B. die psc_063.014 Kritik gegenüber dem jetzigen Naturalismus ohnmächtig... psc_063.015 Sie hat nach dem Guten in der Kunst gestrebt und wollte psc_063.016 das Schlechte bekämpfen; aber sie hat keine festen Maßstäbe psc_063.017 gefunden zur Scheidung zwischen Gut und Schlecht... Sie psc_063.018 hat sich deshalb schon entschließen müssen, seit Schiller, nicht psc_063.019 mehr alle Erscheinungen auf den Unterschied von Gut und psc_063.020 Schlecht zurückgehen zu lassen und so weit wenigstens jenes psc_063.021 Suchen nach der reinen wahren Poesie aufzugeben, daß sie psc_063.022 die Gegensätze zwischen Naiv und Sentimental, Klassisch und psc_063.023 Romantisch, also Stilunterschiede, als quasi=gleichberechtigt psc_063.024 nebeneinander stellte. Auf diese Weise hat man einen Stilgegensatz psc_063.025 der Classification zu Grunde gelegt; und sogar psc_063.026 Vischer hat den Gegensatz „Klassisch“ und „Romantisch“ psc_063.027 durch seine ganze Aesthetik durchgeführt, hierin der Erbe der psc_063.028 romantischen Doctrin.
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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/79>, abgerufen am 27.07.2024.
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