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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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ist ganz in diesem Zwielicht darzustellen: Wallensteins psc_207.002
astrologischer Wahn; so auch prophetische Träume -- heute besser psc_207.003
mit Betonung der Zweideutigkeit; und ebenso Geistererscheinungen, psc_207.004
weil als subjective Phänomene gedacht (vgl. Lessing psc_207.005
in der "Hamb. Dramaturgie"). Aber auch namentlich die oft psc_207.006
furchtbare, oft lächerliche Wirkung der Zufälle. Freilich ist es psc_207.007
eine große Frage, ob nicht doch Zufall die Völker bestimmt, psc_207.008
oder ob die Zufälle sich gegenseitig corrigiren. Jedenfalls psc_207.009
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auf bekannte Factoren hin; kaum ist er gefaßt, tritt ein neues psc_207.013
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Götter, macht sie aber zu allegorischen Fictionen: Phoebus -- psc_207.021
Sonne, Poseidon -- Meer. So hat man einfache Personificationen, psc_207.022
die aber auch etwas platt sind. Dagegen herrscht psc_207.023
innere Vertiefung z. B. in Goethes "Römischen Elegien" und psc_207.024
"Achilleis". Der Hauptvortheil dabei ist, daß dies uns bekannte psc_207.025
Charaktere sind, an die sich feste Vorstellungen psc_207.026
anknüpfen. Deshalb war z. B. Klopstocks Mythologie unbrauchbar, psc_207.027
denn er hatte die eddischen Götter eingesetzt, und psc_207.028
weil diese unbekannt waren, thaten sie keine Wirkung.

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für poetische Zwecke pflegt in allen Poetiken gehandelt zu psc_207.018
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die aber auch etwas platt sind. Dagegen herrscht psc_207.023
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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/223>, abgerufen am 03.05.2024.