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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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eigenen Vergnügen. Dagegen beim Ballet, wo für das Publicum psc_188.002
getanzt wird, ertrüge man das nicht. Da haben wir psc_188.003
eine schlagende Parallele für einsames Dichten und öffentliches psc_188.004
Dichten.

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Das Publicum verlangt eine Arie da capo aus Freude psc_188.006
am Vortrag, es will dann dasselbe noch einmal hören; verlangt psc_188.007
es dagegen ein Couplet noch einmal, so will es Variationen psc_188.008
hören, neue Strophen, nicht die alten. Der Unterschied psc_188.009
ist wohl der, daß beim Couplet ein wesentlich stoffliches psc_188.010
Jnteresse, bei der Arie ein überwiegend formales herrscht. psc_188.011
Bei der Arie will man sich die Theile nochmals vergegenwärtigen. psc_188.012
Einen Witz verlangt man nicht zum zweiten Mal.

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Aber man sieht dasselbe Stück doch wiederholt; man liest psc_188.014
dasselbe Buch doch wiederholt.

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Die Wiederholung ist ein Genuß anderer Art, außer psc_188.016
wenn man vergessen hat. Aber, gutes Gedächtniß vorausgesetzt, psc_188.017
tritt bei der zweiten Lectüre das stoffliche Jnteresse psc_188.018
zurück gegenüber dem formalen: also nicht vorübereilende psc_188.019
Spannung, sondern verwirklichter Genuß. Man will im Einzelnen psc_188.020
sehen, wie es der Autor gemacht hat. Jedenfalls ist psc_188.021
die Absicht, schon Bekanntes noch genauer, noch im Einzelnen, psc_188.022
also überhaupt wieder zu genießen.

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Wenn uns dagegen ein alter Stoff ohne neue Seiten, psc_188.024
bloß unter neuem Titel vorkommt, so ist das eine Enttäuschung: psc_188.025
getäuschte Erwartung!

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Wenn vollends derselbe Gegenstand von einem neuen psc_188.027
Autor behandelt wird, so erwartet man, daß er dem Gegenstand psc_188.028
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eigenen Vergnügen. Dagegen beim Ballet, wo für das Publicum psc_188.002
getanzt wird, ertrüge man das nicht. Da haben wir psc_188.003
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  Das Publicum verlangt eine Arie da capo aus Freude psc_188.006
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Bei der Arie will man sich die Theile nochmals vergegenwärtigen. psc_188.012
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  Aber man sieht dasselbe Stück doch wiederholt; man liest psc_188.014
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zurück gegenüber dem formalen: also nicht vorübereilende psc_188.019
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also überhaupt wieder zu genießen.

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  Wenn uns dagegen ein alter Stoff ohne neue Seiten, psc_188.024
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[188/0204] psc_188.001 eigenen Vergnügen. Dagegen beim Ballet, wo für das Publicum psc_188.002 getanzt wird, ertrüge man das nicht. Da haben wir psc_188.003 eine schlagende Parallele für einsames Dichten und öffentliches psc_188.004 Dichten. psc_188.005   Das Publicum verlangt eine Arie da capo aus Freude psc_188.006 am Vortrag, es will dann dasselbe noch einmal hören; verlangt psc_188.007 es dagegen ein Couplet noch einmal, so will es Variationen psc_188.008 hören, neue Strophen, nicht die alten. Der Unterschied psc_188.009 ist wohl der, daß beim Couplet ein wesentlich stoffliches psc_188.010 Jnteresse, bei der Arie ein überwiegend formales herrscht. psc_188.011 Bei der Arie will man sich die Theile nochmals vergegenwärtigen. psc_188.012 Einen Witz verlangt man nicht zum zweiten Mal. psc_188.013   Aber man sieht dasselbe Stück doch wiederholt; man liest psc_188.014 dasselbe Buch doch wiederholt. psc_188.015   Die Wiederholung ist ein Genuß anderer Art, außer psc_188.016 wenn man vergessen hat. Aber, gutes Gedächtniß vorausgesetzt, psc_188.017 tritt bei der zweiten Lectüre das stoffliche Jnteresse psc_188.018 zurück gegenüber dem formalen: also nicht vorübereilende psc_188.019 Spannung, sondern verwirklichter Genuß. Man will im Einzelnen psc_188.020 sehen, wie es der Autor gemacht hat. Jedenfalls ist psc_188.021 die Absicht, schon Bekanntes noch genauer, noch im Einzelnen, psc_188.022 also überhaupt wieder zu genießen. psc_188.023   Wenn uns dagegen ein alter Stoff ohne neue Seiten, psc_188.024 bloß unter neuem Titel vorkommt, so ist das eine Enttäuschung: psc_188.025 getäuschte Erwartung! psc_188.026   Wenn vollends derselbe Gegenstand von einem neuen psc_188.027 Autor behandelt wird, so erwartet man, daß er dem Gegenstand psc_188.028 neue Seiten abgewinnt.

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/204>, abgerufen am 23.11.2024.