Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_097.001 2) Eine gewiß alte Gattung der Poesie sind die Klagelieder psc_097.017 psc_097.001 2) Eine gewiß alte Gattung der Poesie sind die Klagelieder psc_097.017 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0113" n="97"/><lb n="psc_097.001"/> liegt — eine Befreiung von dem Affecte fast. Wir wissen, <lb n="psc_097.002"/> daß Goethe die Poesie als ein Mittel betrachtete, sich vom <lb n="psc_097.003"/> Druck, der auf ihm lastete, zu lösen. Jn dem Herbeiholen <lb n="psc_097.004"/> von andern Dingen liegt so viel Thätigkeit, daß schon hierdurch <lb n="psc_097.005"/> der Geist abgelenkt wird. Aber noch weiter: das <lb n="psc_097.006"/> Aussprechen giebt uns das Vergnügen, Theilnahme zu erwecken. <lb n="psc_097.007"/> Ein Kind fällt hin und thut sich weh, schreit aber <lb n="psc_097.008"/> nicht; man fragt, warum es geschwiegen, und es antwortet: <lb n="psc_097.009"/> „Es war ja niemand da!“ Man will Theilnahme erwecken, <lb n="psc_097.010"/> man münzt den Schmerz aus, um etwas Anderes einzutauschen. <lb n="psc_097.011"/> Man kommt sich wichtig vor, weil Andere um <lb n="psc_097.012"/> uns beschäftigt sind. So wirkt auch die Theilnahme von <lb n="psc_097.013"/> außen: der banale Trost der allgemeinen Theilnahme, das <lb n="psc_097.014"/> „schöne Begräbniß“. So ist das Schreien im Schmerz ein <lb n="psc_097.015"/> Aufruf zum Antheil.</p> <lb n="psc_097.016"/> <p> 2) Eine gewiß alte Gattung der Poesie sind die Klagelieder <lb n="psc_097.017"/> um einen gefallenen Häuptling, Helden, geliebten Angehörigen. <lb n="psc_097.018"/> Solche Lieder fallen z. Th. unter 1) Aber außerdem <lb n="psc_097.019"/> ist der Fest- und Trauerpomp, ja der Trauerschmaus <lb n="psc_097.020"/> ein Vergnügungsmoment. Ferner fand schon Aristoteles (Rhet. <lb n="psc_097.021"/> 1, 11 <hi rendition="#aq">C 370b</hi>) in den Klagegesängen als ein Element des <lb n="psc_097.022"/> Vergnügens: die Erinnerung an den Todten und die Vergegenwärtigung <lb n="psc_097.023"/> dessen, was er gethan und wie ers gethan; also <lb n="psc_097.024"/> alles Preisen des Todten erweckt eine angenehme Vorstellung. <lb n="psc_097.025"/> Analoges können wir noch heut erfahren. Müllenhoff schrieb <lb n="psc_097.026"/> mir: „Der Tod ist der treueste Freund des Menschen, weil <lb n="psc_097.027"/> er erst das vollkommene Bild der Persönlichkeit giebt.“ <lb n="psc_097.028"/> Endlich sind die Trauergesänge vielfach verbunden mit dem </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [97/0113]
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liegt — eine Befreiung von dem Affecte fast. Wir wissen, psc_097.002
daß Goethe die Poesie als ein Mittel betrachtete, sich vom psc_097.003
Druck, der auf ihm lastete, zu lösen. Jn dem Herbeiholen psc_097.004
von andern Dingen liegt so viel Thätigkeit, daß schon hierdurch psc_097.005
der Geist abgelenkt wird. Aber noch weiter: das psc_097.006
Aussprechen giebt uns das Vergnügen, Theilnahme zu erwecken. psc_097.007
Ein Kind fällt hin und thut sich weh, schreit aber psc_097.008
nicht; man fragt, warum es geschwiegen, und es antwortet: psc_097.009
„Es war ja niemand da!“ Man will Theilnahme erwecken, psc_097.010
man münzt den Schmerz aus, um etwas Anderes einzutauschen. psc_097.011
Man kommt sich wichtig vor, weil Andere um psc_097.012
uns beschäftigt sind. So wirkt auch die Theilnahme von psc_097.013
außen: der banale Trost der allgemeinen Theilnahme, das psc_097.014
„schöne Begräbniß“. So ist das Schreien im Schmerz ein psc_097.015
Aufruf zum Antheil.
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2) Eine gewiß alte Gattung der Poesie sind die Klagelieder psc_097.017
um einen gefallenen Häuptling, Helden, geliebten Angehörigen. psc_097.018
Solche Lieder fallen z. Th. unter 1) Aber außerdem psc_097.019
ist der Fest- und Trauerpomp, ja der Trauerschmaus psc_097.020
ein Vergnügungsmoment. Ferner fand schon Aristoteles (Rhet. psc_097.021
1, 11 C 370b) in den Klagegesängen als ein Element des psc_097.022
Vergnügens: die Erinnerung an den Todten und die Vergegenwärtigung psc_097.023
dessen, was er gethan und wie ers gethan; also psc_097.024
alles Preisen des Todten erweckt eine angenehme Vorstellung. psc_097.025
Analoges können wir noch heut erfahren. Müllenhoff schrieb psc_097.026
mir: „Der Tod ist der treueste Freund des Menschen, weil psc_097.027
er erst das vollkommene Bild der Persönlichkeit giebt.“ psc_097.028
Endlich sind die Trauergesänge vielfach verbunden mit dem
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