Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.
psc_095.001 Dies Erhebende im Tragischen ist gewiß vorhanden, psc_095.019
psc_095.001 Dies Erhebende im Tragischen ist gewiß vorhanden, psc_095.019 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0111" n="95"/><lb n="psc_095.001"/> daß das Unangenehme in der Poesie angenehm <lb n="psc_095.002"/> wird, daß der dargestellte Schmerz Vergnügen <lb n="psc_095.003"/> macht?</hi> Hier wird nicht die angenehme Vorstellung erweckt, <lb n="psc_095.004"/> sondern gerade die unangenehme. Und dennoch wirken die <lb n="psc_095.005"/> Dichter mit tragischen, schmerzlichen Sujets. Nirgends ist der <lb n="psc_095.006"/> eigenthümliche Widerspruch, den das Vergnügen des Schmerzes <lb n="psc_095.007"/> ausmacht, so ergreifend dargestellt wie in einer herrlichen <lb n="psc_095.008"/> Stelle des Augustinus (bei Bernays, Zwei Abhandlungen <lb n="psc_095.009"/> über die Aristotelische Theorie des Dramas, S. 15). Auch <lb n="psc_095.010"/> Schiller hat sich mit der Frage beschäftigt in der Abhandlung <lb n="psc_095.011"/> über den Grund unseres Vergnügens an tragischen <lb n="psc_095.012"/> Gegenständen (Werke 10, 1 f.). Aber seine Antwort setzt <lb n="psc_095.013"/> einen hochentwickelten sittlichen Zustand voraus, Sinn für das <lb n="psc_095.014"/> Edle, für Aufopferung, Befriedigung darüber, daß tragisches <lb n="psc_095.015"/> Leiden zu edlen Zwecken geschieht, daß der Held, der sich <lb n="psc_095.016"/> hingiebt, den Tod willig auf sich nimmt, dies für die <lb n="psc_095.017"/> Menschheit thut.</p> <lb n="psc_095.018"/> <p> Dies Erhebende im Tragischen ist gewiß vorhanden, <lb n="psc_095.019"/> wird aber nur nebenbei empfunden, ist nur ein accessorisches <lb n="psc_095.020"/> Vergnügen, das sich erst auf einer höheren Civilisationsstufe <lb n="psc_095.021"/> einfindet. Jedenfalls erschöpft es die Sache gewiß nicht. <lb n="psc_095.022"/> Gleich dies wird dadurch nicht erklärt, wie auf niederer <lb n="psc_095.023"/> Culturstufe Freude am Tragischen möglich ist. Wahrscheinlich <lb n="psc_095.024"/> handelt es sich um sehr complicirte, auch noch in verschiedenen <lb n="psc_095.025"/> Fällen verschiedene Vorgänge; und die Frage wird <lb n="psc_095.026"/> kaum befriedigend zu lösen sein, wenn wir sie nicht anders <lb n="psc_095.027"/> als oben formuliren. Wir werden weiter kommen, wenn </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [95/0111]
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daß das Unangenehme in der Poesie angenehm psc_095.002
wird, daß der dargestellte Schmerz Vergnügen psc_095.003
macht? Hier wird nicht die angenehme Vorstellung erweckt, psc_095.004
sondern gerade die unangenehme. Und dennoch wirken die psc_095.005
Dichter mit tragischen, schmerzlichen Sujets. Nirgends ist der psc_095.006
eigenthümliche Widerspruch, den das Vergnügen des Schmerzes psc_095.007
ausmacht, so ergreifend dargestellt wie in einer herrlichen psc_095.008
Stelle des Augustinus (bei Bernays, Zwei Abhandlungen psc_095.009
über die Aristotelische Theorie des Dramas, S. 15). Auch psc_095.010
Schiller hat sich mit der Frage beschäftigt in der Abhandlung psc_095.011
über den Grund unseres Vergnügens an tragischen psc_095.012
Gegenständen (Werke 10, 1 f.). Aber seine Antwort setzt psc_095.013
einen hochentwickelten sittlichen Zustand voraus, Sinn für das psc_095.014
Edle, für Aufopferung, Befriedigung darüber, daß tragisches psc_095.015
Leiden zu edlen Zwecken geschieht, daß der Held, der sich psc_095.016
hingiebt, den Tod willig auf sich nimmt, dies für die psc_095.017
Menschheit thut.
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Dies Erhebende im Tragischen ist gewiß vorhanden, psc_095.019
wird aber nur nebenbei empfunden, ist nur ein accessorisches psc_095.020
Vergnügen, das sich erst auf einer höheren Civilisationsstufe psc_095.021
einfindet. Jedenfalls erschöpft es die Sache gewiß nicht. psc_095.022
Gleich dies wird dadurch nicht erklärt, wie auf niederer psc_095.023
Culturstufe Freude am Tragischen möglich ist. Wahrscheinlich psc_095.024
handelt es sich um sehr complicirte, auch noch in verschiedenen psc_095.025
Fällen verschiedene Vorgänge; und die Frage wird psc_095.026
kaum befriedigend zu lösen sein, wenn wir sie nicht anders psc_095.027
als oben formuliren. Wir werden weiter kommen, wenn
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