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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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die diese Idee für unsere Zeit haben mag, kann ihrer Wahrheit nichts
nehmen. Sie ist die höchste Idee für die ganze Geschichte überhaupt.
Analogien, ferne Anspielungen auf ein solches Verhältniß enthält schon
die Natur in der Art, wie sich die Kunsttriebe der Thiere äußern, in-
dem bei mehreren Gattungen ein ganzes Geschlecht zusammen wirkt,
jedes Individuum als das Ganze, und das Ganze selbst wieder als
Individuum handelt. Ein solches Verhältniß kann uns in der Kunst
um so weniger befremden, da wir eben hier -- auf der höchsten Stufe
der Produktion -- den Gegensatz der Natur und Freiheit noch
einmal eintreten sehen, und die griechische Mythologie z. B. uns in
der Kunst selbst die Natur wieder bringt, wie ich noch bestimmt
beweisen werde. Aber eben auch nur in der Kunst kann die Natur
eine solche Eintracht des Individuums und der Gattung bewirken (im
Handeln behauptet sie auch ihr Recht, aber weniger auffallend, mehr
im Ganzen als im Einzelnen, und im Einzelnen nur für Momente).
In der griechischen Mythologie hat die Natur ein solches Werk eines
auf ein ganzes Geschlecht ausgedehnten gemeinschaftlichen Kunsttriebs
aufgestellt, und die entgegengesetzte Bildung der griechischen, die moderne,
hat nichts Aehnliches aufzuweisen, obgleich sie in der Bildung einer
universellen Kirche gleichsam instinktmäßig etwas Aehnliches beabsichtigte.

Vollkommen deutlich kann dieses Verhältniß, durch welches wir
uns die griechische Mythologie als entstanden denken müssen -- diese
in ihrer Art einzige Besitznahme eines ganzen Geschlechts durch einen
gemeinschaftlichen Kunstgeist -- nur in der Entgegenstellung gegen den
Ursprung der modernen Poesie gemacht werden, zu der ich jetzt nicht
fort gehen kann. Ich erinnere an die Wolfsche Hypothese vom Homer,
daß er auch in seiner ursprünglichen Gestalt nicht das Werk eines Ein-
zigen, sondern mehrerer von dem gleichen Geist getriebener Menschen
gewesen. Wolf hat als Kritiker die Sache nur zu empirisch, zu be-
schränkt auf das schriftliche Werk, das wir Homer nennen, mit Einem
Wort zu untergeordnet angefaßt, um die Idee der Sache selbst, das
Allgemeine vielleicht seiner eignen Vorstellung deutlich und anschaulich
machen zu können. Ich lasse die unbeschränkte Richtigkeit der Wolfschen

die dieſe Idee für unſere Zeit haben mag, kann ihrer Wahrheit nichts
nehmen. Sie iſt die höchſte Idee für die ganze Geſchichte überhaupt.
Analogien, ferne Anſpielungen auf ein ſolches Verhältniß enthält ſchon
die Natur in der Art, wie ſich die Kunſttriebe der Thiere äußern, in-
dem bei mehreren Gattungen ein ganzes Geſchlecht zuſammen wirkt,
jedes Individuum als das Ganze, und das Ganze ſelbſt wieder als
Individuum handelt. Ein ſolches Verhältniß kann uns in der Kunſt
um ſo weniger befremden, da wir eben hier — auf der höchſten Stufe
der Produktion — den Gegenſatz der Natur und Freiheit noch
einmal eintreten ſehen, und die griechiſche Mythologie z. B. uns in
der Kunſt ſelbſt die Natur wieder bringt, wie ich noch beſtimmt
beweiſen werde. Aber eben auch nur in der Kunſt kann die Natur
eine ſolche Eintracht des Individuums und der Gattung bewirken (im
Handeln behauptet ſie auch ihr Recht, aber weniger auffallend, mehr
im Ganzen als im Einzelnen, und im Einzelnen nur für Momente).
In der griechiſchen Mythologie hat die Natur ein ſolches Werk eines
auf ein ganzes Geſchlecht ausgedehnten gemeinſchaftlichen Kunſttriebs
aufgeſtellt, und die entgegengeſetzte Bildung der griechiſchen, die moderne,
hat nichts Aehnliches aufzuweiſen, obgleich ſie in der Bildung einer
univerſellen Kirche gleichſam inſtinktmäßig etwas Aehnliches beabſichtigte.

Vollkommen deutlich kann dieſes Verhältniß, durch welches wir
uns die griechiſche Mythologie als entſtanden denken müſſen — dieſe
in ihrer Art einzige Beſitznahme eines ganzen Geſchlechts durch einen
gemeinſchaftlichen Kunſtgeiſt — nur in der Entgegenſtellung gegen den
Urſprung der modernen Poeſie gemacht werden, zu der ich jetzt nicht
fort gehen kann. Ich erinnere an die Wolfſche Hypotheſe vom Homer,
daß er auch in ſeiner urſprünglichen Geſtalt nicht das Werk eines Ein-
zigen, ſondern mehrerer von dem gleichen Geiſt getriebener Menſchen
geweſen. Wolf hat als Kritiker die Sache nur zu empiriſch, zu be-
ſchränkt auf das ſchriftliche Werk, das wir Homer nennen, mit Einem
Wort zu untergeordnet angefaßt, um die Idee der Sache ſelbſt, das
Allgemeine vielleicht ſeiner eignen Vorſtellung deutlich und anſchaulich
machen zu können. Ich laſſe die unbeſchränkte Richtigkeit der Wolfſchen

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[415/0091] die dieſe Idee für unſere Zeit haben mag, kann ihrer Wahrheit nichts nehmen. Sie iſt die höchſte Idee für die ganze Geſchichte überhaupt. Analogien, ferne Anſpielungen auf ein ſolches Verhältniß enthält ſchon die Natur in der Art, wie ſich die Kunſttriebe der Thiere äußern, in- dem bei mehreren Gattungen ein ganzes Geſchlecht zuſammen wirkt, jedes Individuum als das Ganze, und das Ganze ſelbſt wieder als Individuum handelt. Ein ſolches Verhältniß kann uns in der Kunſt um ſo weniger befremden, da wir eben hier — auf der höchſten Stufe der Produktion — den Gegenſatz der Natur und Freiheit noch einmal eintreten ſehen, und die griechiſche Mythologie z. B. uns in der Kunſt ſelbſt die Natur wieder bringt, wie ich noch beſtimmt beweiſen werde. Aber eben auch nur in der Kunſt kann die Natur eine ſolche Eintracht des Individuums und der Gattung bewirken (im Handeln behauptet ſie auch ihr Recht, aber weniger auffallend, mehr im Ganzen als im Einzelnen, und im Einzelnen nur für Momente). In der griechiſchen Mythologie hat die Natur ein ſolches Werk eines auf ein ganzes Geſchlecht ausgedehnten gemeinſchaftlichen Kunſttriebs aufgeſtellt, und die entgegengeſetzte Bildung der griechiſchen, die moderne, hat nichts Aehnliches aufzuweiſen, obgleich ſie in der Bildung einer univerſellen Kirche gleichſam inſtinktmäßig etwas Aehnliches beabſichtigte. Vollkommen deutlich kann dieſes Verhältniß, durch welches wir uns die griechiſche Mythologie als entſtanden denken müſſen — dieſe in ihrer Art einzige Beſitznahme eines ganzen Geſchlechts durch einen gemeinſchaftlichen Kunſtgeiſt — nur in der Entgegenſtellung gegen den Urſprung der modernen Poeſie gemacht werden, zu der ich jetzt nicht fort gehen kann. Ich erinnere an die Wolfſche Hypotheſe vom Homer, daß er auch in ſeiner urſprünglichen Geſtalt nicht das Werk eines Ein- zigen, ſondern mehrerer von dem gleichen Geiſt getriebener Menſchen geweſen. Wolf hat als Kritiker die Sache nur zu empiriſch, zu be- ſchränkt auf das ſchriftliche Werk, das wir Homer nennen, mit Einem Wort zu untergeordnet angefaßt, um die Idee der Sache ſelbſt, das Allgemeine vielleicht ſeiner eignen Vorſtellung deutlich und anſchaulich machen zu können. Ich laſſe die unbeſchränkte Richtigkeit der Wolfſchen

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 415. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/91>, abgerufen am 25.11.2024.