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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Zur Erläuterung der beiden vorhergehenden Sätze
(34 und 35). Nachdem einmal diese eigentliche Welt der Phantasie
erschaffen ist, ist der Einbildung keine weitere Grenze gesetzt, eben deß-
wegen, weil innerhalb derselben alles Mögliche unmittelbar wirklich ist.
Diese Welt kann, ja muß sich also von Einem Punkt aus ins Unend-
liche bilden; kein mögliches Verhältniß der Götter unter sich und keine
mögliche Begrenzung in Ansehung des Absoluten ist nun ausgeschlossen.
-- Dadurch, daß alle Gestalten als für sich bestehende Wesen in allen
Verwicklungen und Verhältnissen betrachtet werden, daß sich unter ihnen
selbst wieder ein Kreis von Beziehungen und eine eigne Geschichte bil-
det, erlangen sie die höchste Objektivität, wodurch dann diese Dichtungen
sämmtlich in die Mythologie übergehen.

Was insbesondere die Totalität der Bildungen in der griechischen
Mythologie betrifft, so läßt sich zeigen, daß in der That alle Möglich-
keiten, die in dem Ideenreich liegen, wie es von der Philosophie con-
struirt wird, in der griechischen Mythologie vollkommen erschöpft sind.
-- Die Nacht und das Fatum, das selbst über den Göttern, wie
jene die Mutter der Götter ist, sind der dunkle Hintergrund, die ver-
borgene geheimnißvolle Identität, aus der sie alle hervorgegangen sind.
Immer schweben beide noch über ihnen; aber im lichten Reich der be-
grenzten und erkennbaren Gestalten ist Jupiter der absolute Indifferenz-
punkt, in ihm ist die absolute Macht mit der absoluten Weisheit ge-
paart; denn als ihm, da er zuerst mit der Metis sich vermählte, ge-
weissagt wurde, daß diese von ihm einen Sohn gebären würde, der,
beider Naturen vereinend, alle Götter beherrschen würde, zog er diese
in sich selbst hinüber und vermählte sie ganz mit sich: offenbares Sinn-
bild der absoluten Indifferenz der Weisheit und Macht im ewigen
Wesen. Nun gebar er unmittelbar aus sich selbst die Minerva, die
gerüstet und gewappnet aus seinem ewigen Haupte entsprang, das
Sinnbild der absoluten Form und des Universums, als Bildes der
göttlichen Weisheit, das zumal, in seiner ganzen Form, ohne Zeit
aus dem ewigen Princip entspringt. Nur nicht: daß etwa Jupiter
oder Minerva dieß bedeutet oder auch bedeuten sollen. Dadurch

Zur Erläuterung der beiden vorhergehenden Sätze
(34 und 35). Nachdem einmal dieſe eigentliche Welt der Phantaſie
erſchaffen iſt, iſt der Einbildung keine weitere Grenze geſetzt, eben deß-
wegen, weil innerhalb derſelben alles Mögliche unmittelbar wirklich iſt.
Dieſe Welt kann, ja muß ſich alſo von Einem Punkt aus ins Unend-
liche bilden; kein mögliches Verhältniß der Götter unter ſich und keine
mögliche Begrenzung in Anſehung des Abſoluten iſt nun ausgeſchloſſen.
— Dadurch, daß alle Geſtalten als für ſich beſtehende Weſen in allen
Verwicklungen und Verhältniſſen betrachtet werden, daß ſich unter ihnen
ſelbſt wieder ein Kreis von Beziehungen und eine eigne Geſchichte bil-
det, erlangen ſie die höchſte Objektivität, wodurch dann dieſe Dichtungen
ſämmtlich in die Mythologie übergehen.

Was insbeſondere die Totalität der Bildungen in der griechiſchen
Mythologie betrifft, ſo läßt ſich zeigen, daß in der That alle Möglich-
keiten, die in dem Ideenreich liegen, wie es von der Philoſophie con-
ſtruirt wird, in der griechiſchen Mythologie vollkommen erſchöpft ſind.
— Die Nacht und das Fatum, das ſelbſt über den Göttern, wie
jene die Mutter der Götter iſt, ſind der dunkle Hintergrund, die ver-
borgene geheimnißvolle Identität, aus der ſie alle hervorgegangen ſind.
Immer ſchweben beide noch über ihnen; aber im lichten Reich der be-
grenzten und erkennbaren Geſtalten iſt Jupiter der abſolute Indifferenz-
punkt, in ihm iſt die abſolute Macht mit der abſoluten Weisheit ge-
paart; denn als ihm, da er zuerſt mit der Metis ſich vermählte, ge-
weiſſagt wurde, daß dieſe von ihm einen Sohn gebären würde, der,
beider Naturen vereinend, alle Götter beherrſchen würde, zog er dieſe
in ſich ſelbſt hinüber und vermählte ſie ganz mit ſich: offenbares Sinn-
bild der abſoluten Indifferenz der Weisheit und Macht im ewigen
Weſen. Nun gebar er unmittelbar aus ſich ſelbſt die Minerva, die
gerüſtet und gewappnet aus ſeinem ewigen Haupte entſprang, das
Sinnbild der abſoluten Form und des Univerſums, als Bildes der
göttlichen Weisheit, das zumal, in ſeiner ganzen Form, ohne Zeit
aus dem ewigen Princip entſpringt. Nur nicht: daß etwa Jupiter
oder Minerva dieß bedeutet oder auch bedeuten ſollen. Dadurch

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[400/0076] Zur Erläuterung der beiden vorhergehenden Sätze (34 und 35). Nachdem einmal dieſe eigentliche Welt der Phantaſie erſchaffen iſt, iſt der Einbildung keine weitere Grenze geſetzt, eben deß- wegen, weil innerhalb derſelben alles Mögliche unmittelbar wirklich iſt. Dieſe Welt kann, ja muß ſich alſo von Einem Punkt aus ins Unend- liche bilden; kein mögliches Verhältniß der Götter unter ſich und keine mögliche Begrenzung in Anſehung des Abſoluten iſt nun ausgeſchloſſen. — Dadurch, daß alle Geſtalten als für ſich beſtehende Weſen in allen Verwicklungen und Verhältniſſen betrachtet werden, daß ſich unter ihnen ſelbſt wieder ein Kreis von Beziehungen und eine eigne Geſchichte bil- det, erlangen ſie die höchſte Objektivität, wodurch dann dieſe Dichtungen ſämmtlich in die Mythologie übergehen. Was insbeſondere die Totalität der Bildungen in der griechiſchen Mythologie betrifft, ſo läßt ſich zeigen, daß in der That alle Möglich- keiten, die in dem Ideenreich liegen, wie es von der Philoſophie con- ſtruirt wird, in der griechiſchen Mythologie vollkommen erſchöpft ſind. — Die Nacht und das Fatum, das ſelbſt über den Göttern, wie jene die Mutter der Götter iſt, ſind der dunkle Hintergrund, die ver- borgene geheimnißvolle Identität, aus der ſie alle hervorgegangen ſind. Immer ſchweben beide noch über ihnen; aber im lichten Reich der be- grenzten und erkennbaren Geſtalten iſt Jupiter der abſolute Indifferenz- punkt, in ihm iſt die abſolute Macht mit der abſoluten Weisheit ge- paart; denn als ihm, da er zuerſt mit der Metis ſich vermählte, ge- weiſſagt wurde, daß dieſe von ihm einen Sohn gebären würde, der, beider Naturen vereinend, alle Götter beherrſchen würde, zog er dieſe in ſich ſelbſt hinüber und vermählte ſie ganz mit ſich: offenbares Sinn- bild der abſoluten Indifferenz der Weisheit und Macht im ewigen Weſen. Nun gebar er unmittelbar aus ſich ſelbſt die Minerva, die gerüſtet und gewappnet aus ſeinem ewigen Haupte entſprang, das Sinnbild der abſoluten Form und des Univerſums, als Bildes der göttlichen Weisheit, das zumal, in ſeiner ganzen Form, ohne Zeit aus dem ewigen Princip entſpringt. Nur nicht: daß etwa Jupiter oder Minerva dieß bedeutet oder auch bedeuten ſollen. Dadurch

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/76>, abgerufen am 24.11.2024.