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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Die gemeine Vorstellung von den Aristophanischen Komödien ist,
sie entweder für Farcen und Possenspiele oder für unmoralische Stücke
zu halten, theils weil er wirkliche Personen aufs Theater gebracht,
theils wegen der übrigen Freiheiten, die er sich genommen. Was das
Erste betrifft, so ist bekannt genug, daß Aristophanes demagogische
Oberhäupter des Volks, den Sokrates selbst auf die Bühne gebracht,
und die Frage ist nur, auf welche Art dieß geschehen sey. -- Wenn
Aristophanes den Kleon als einen unwürdigen Anführer des Volks,
einen Dieb und Verschwender der öffentlichen Gelder auf das Theater
bringt, so übt er hier das Recht des vollkommensten Freistaates aus,
in welchem jedem Bürger das Recht freistand über öffentliche und all-
gemeine Angelegenheiten seine Meinung zu sagen. Daher Kleon auch
[k]eine andere Maßregel gegen ihn brauchen konnte, als daß er ihm das
Bürgerrecht streitig machte. Allein dieses Recht, das Aristophanes als
Bürger hatte, ist für ihn doch nur das Mittel zu der künstlerischen
Wirkung, und wenn seine Komödie als eine bloße Anklageakte gegen
Kleon begriffen wird, so wäre ja eben darin nichts Unsittliches, sie
wäre nur unpoetisch. -- Nicht anders verhält es sich mit den Wolken,
worin Sokrates vorgestellt ist. Sokrates hatte als Philosoph einen
öffentlichen Charakter; aber daß derjenige Sokrates, welchen Aristo-
phanes darstellt, der wirkliche Sokrates sey, konnte keinem Athener
einfallen, und Sokrates selbst konnte, ohne alle Rücksicht auf seinen
persönlichen Charakter, der ihn etwa über die Satyre erheben konnte,
selbst sehr wohl Zuschauer bei der Aufführung der Wolken seyn. Wenn
etwa einmal unsere lieben deutschen Nachahmer auf den Einfall kämen,
den Aristophanes nachzuahmen, so würden daraus freilich nichts wie
Pasquillen entstehen. Aristophanes stellt nicht die einzelne Person dar,
sondern die ins Allgemeine erhöhte, also von sich selbst ganz verschie-
dene Person. Sokrates ist für Aristophanes ein Name, und er rächt
sich an diesem Namen, ohne Zweifel weil Sokrates als Freund des
Euripides bekannt war, den Aristophanes billiger Weise verfolgte. An
der Person des Sokrates hat er sich auf keine Weise gerächt. Es ist
ein symbolischer Sokrates, den er darstellt. Eben durch das, was man

Die gemeine Vorſtellung von den Ariſtophaniſchen Komödien iſt,
ſie entweder für Farcen und Poſſenſpiele oder für unmoraliſche Stücke
zu halten, theils weil er wirkliche Perſonen aufs Theater gebracht,
theils wegen der übrigen Freiheiten, die er ſich genommen. Was das
Erſte betrifft, ſo iſt bekannt genug, daß Ariſtophanes demagogiſche
Oberhäupter des Volks, den Sokrates ſelbſt auf die Bühne gebracht,
und die Frage iſt nur, auf welche Art dieß geſchehen ſey. — Wenn
Ariſtophanes den Kleon als einen unwürdigen Anführer des Volks,
einen Dieb und Verſchwender der öffentlichen Gelder auf das Theater
bringt, ſo übt er hier das Recht des vollkommenſten Freiſtaates aus,
in welchem jedem Bürger das Recht freiſtand über öffentliche und all-
gemeine Angelegenheiten ſeine Meinung zu ſagen. Daher Kleon auch
[k]eine andere Maßregel gegen ihn brauchen konnte, als daß er ihm das
Bürgerrecht ſtreitig machte. Allein dieſes Recht, das Ariſtophanes als
Bürger hatte, iſt für ihn doch nur das Mittel zu der künſtleriſchen
Wirkung, und wenn ſeine Komödie als eine bloße Anklageakte gegen
Kleon begriffen wird, ſo wäre ja eben darin nichts Unſittliches, ſie
wäre nur unpoetiſch. — Nicht anders verhält es ſich mit den Wolken,
worin Sokrates vorgeſtellt iſt. Sokrates hatte als Philoſoph einen
öffentlichen Charakter; aber daß derjenige Sokrates, welchen Ariſto-
phanes darſtellt, der wirkliche Sokrates ſey, konnte keinem Athener
einfallen, und Sokrates ſelbſt konnte, ohne alle Rückſicht auf ſeinen
perſönlichen Charakter, der ihn etwa über die Satyre erheben konnte,
ſelbſt ſehr wohl Zuſchauer bei der Aufführung der Wolken ſeyn. Wenn
etwa einmal unſere lieben deutſchen Nachahmer auf den Einfall kämen,
den Ariſtophanes nachzuahmen, ſo würden daraus freilich nichts wie
Pasquillen entſtehen. Ariſtophanes ſtellt nicht die einzelne Perſon dar,
ſondern die ins Allgemeine erhöhte, alſo von ſich ſelbſt ganz verſchie-
dene Perſon. Sokrates iſt für Ariſtophanes ein Name, und er rächt
ſich an dieſem Namen, ohne Zweifel weil Sokrates als Freund des
Euripides bekannt war, den Ariſtophanes billiger Weiſe verfolgte. An
der Perſon des Sokrates hat er ſich auf keine Weiſe gerächt. Es iſt
ein ſymboliſcher Sokrates, den er darſtellt. Eben durch das, was man

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[715/0391] Die gemeine Vorſtellung von den Ariſtophaniſchen Komödien iſt, ſie entweder für Farcen und Poſſenſpiele oder für unmoraliſche Stücke zu halten, theils weil er wirkliche Perſonen aufs Theater gebracht, theils wegen der übrigen Freiheiten, die er ſich genommen. Was das Erſte betrifft, ſo iſt bekannt genug, daß Ariſtophanes demagogiſche Oberhäupter des Volks, den Sokrates ſelbſt auf die Bühne gebracht, und die Frage iſt nur, auf welche Art dieß geſchehen ſey. — Wenn Ariſtophanes den Kleon als einen unwürdigen Anführer des Volks, einen Dieb und Verſchwender der öffentlichen Gelder auf das Theater bringt, ſo übt er hier das Recht des vollkommenſten Freiſtaates aus, in welchem jedem Bürger das Recht freiſtand über öffentliche und all- gemeine Angelegenheiten ſeine Meinung zu ſagen. Daher Kleon auch keine andere Maßregel gegen ihn brauchen konnte, als daß er ihm das Bürgerrecht ſtreitig machte. Allein dieſes Recht, das Ariſtophanes als Bürger hatte, iſt für ihn doch nur das Mittel zu der künſtleriſchen Wirkung, und wenn ſeine Komödie als eine bloße Anklageakte gegen Kleon begriffen wird, ſo wäre ja eben darin nichts Unſittliches, ſie wäre nur unpoetiſch. — Nicht anders verhält es ſich mit den Wolken, worin Sokrates vorgeſtellt iſt. Sokrates hatte als Philoſoph einen öffentlichen Charakter; aber daß derjenige Sokrates, welchen Ariſto- phanes darſtellt, der wirkliche Sokrates ſey, konnte keinem Athener einfallen, und Sokrates ſelbſt konnte, ohne alle Rückſicht auf ſeinen perſönlichen Charakter, der ihn etwa über die Satyre erheben konnte, ſelbſt ſehr wohl Zuſchauer bei der Aufführung der Wolken ſeyn. Wenn etwa einmal unſere lieben deutſchen Nachahmer auf den Einfall kämen, den Ariſtophanes nachzuahmen, ſo würden daraus freilich nichts wie Pasquillen entſtehen. Ariſtophanes ſtellt nicht die einzelne Perſon dar, ſondern die ins Allgemeine erhöhte, alſo von ſich ſelbſt ganz verſchie- dene Perſon. Sokrates iſt für Ariſtophanes ein Name, und er rächt ſich an dieſem Namen, ohne Zweifel weil Sokrates als Freund des Euripides bekannt war, den Ariſtophanes billiger Weiſe verfolgte. An der Perſon des Sokrates hat er ſich auf keine Weiſe gerächt. Es iſt ein ſymboliſcher Sokrates, den er darſtellt. Eben durch das, was man

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 715. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/391>, abgerufen am 25.11.2024.