Gegenstände nicht bloß bedeutet, sondern selbst vor Augen stellt. Es entspricht also der plastischen Kunst unter den redenden Künsten, und schließt als die letzte Totalität ebenso diese Seite der Kunstwelt, wie die Plastik die andere geschlossen hat.
Ueber Aeschylos, Sophokles, Euripides.
Wenn man auf diese Weise das Wesen und die innere und äußere Form der Tragödie aus ganz allgemeinen Gründen construirt hat, und sich nun zu der Betrachtung der ächten Werke der griechischen Tragödie wendet, und sie durchaus dem, was sich darüber ganz allgemein ein- sehen läßt, angemessen findet, so begreift man erst vollständig die Reinheit und Rationalität der griechischen Kunst. Auch das Epos der Griechen trägt dieses Gepräge, aber es läßt sich in ihm, weil sein rationaler Charakter selbst mehr Zufälligkeit zuläßt, nicht so streng und bis ins Detail nachweisen, wie an der griechischen Tragödie, die man fast wie eine geometrische oder arithmetische Aufgabe ansehen kann, die völlig rein und ohne Bruch aufgeht. Zum Wesen des Epos gehört es, daß kein bestimmter Anfang noch Ende. Das Gegentheil bei der Tragödie. In ihr wird eben ein solches reines Aufgehen, ein absolutes Geschlossen- seyn gefordert, ohne daß irgend etwas noch unbefriedigt zurückbliebe.
Wenn die drei griechischen Tragiker unter einander verglichen wer- den, so findet sich zwar, daß Euripides von den beiden ersten in mehr als einer Beziehung abgesondert werden muß. Das Wesen der ächten Aeschyleischen und Sophokleischen Tragödie ist durchaus auf jene höhere Sittlichkeit gegründet, welche der Geist und das Leben ihrer Zeit und ihrer Stadt war. Das Tragische ruht in ihren Werken nie auf dem bloß äußeren Unglück; die Nothwendigkeit erscheint vielmehr mit dem Willen selbst in unmittelbarem Streit und bekämpft ihn auf seinem eignen Boden. Der Prometheus des Aeschylos leidet nicht bloß durch den äußeren Schmerz, sondern viel tiefer durch das innere Gefühl des Unrechts und der Unterdrückung, und sein Leiden äußert sich nicht als Unterwerfung, da es nicht das Schicksal ist, sondern die Tyrannei des neuen Herrschers der Götter, die ihm dieß Leiden bereitet, es
Gegenſtände nicht bloß bedeutet, ſondern ſelbſt vor Augen ſtellt. Es entſpricht alſo der plaſtiſchen Kunſt unter den redenden Künſten, und ſchließt als die letzte Totalität ebenſo dieſe Seite der Kunſtwelt, wie die Plaſtik die andere geſchloſſen hat.
Ueber Aeſchylos, Sophokles, Euripides.
Wenn man auf dieſe Weiſe das Weſen und die innere und äußere Form der Tragödie aus ganz allgemeinen Gründen conſtruirt hat, und ſich nun zu der Betrachtung der ächten Werke der griechiſchen Tragödie wendet, und ſie durchaus dem, was ſich darüber ganz allgemein ein- ſehen läßt, angemeſſen findet, ſo begreift man erſt vollſtändig die Reinheit und Rationalität der griechiſchen Kunſt. Auch das Epos der Griechen trägt dieſes Gepräge, aber es läßt ſich in ihm, weil ſein rationaler Charakter ſelbſt mehr Zufälligkeit zuläßt, nicht ſo ſtreng und bis ins Detail nachweiſen, wie an der griechiſchen Tragödie, die man faſt wie eine geometriſche oder arithmetiſche Aufgabe anſehen kann, die völlig rein und ohne Bruch aufgeht. Zum Weſen des Epos gehört es, daß kein beſtimmter Anfang noch Ende. Das Gegentheil bei der Tragödie. In ihr wird eben ein ſolches reines Aufgehen, ein abſolutes Geſchloſſen- ſeyn gefordert, ohne daß irgend etwas noch unbefriedigt zurückbliebe.
Wenn die drei griechiſchen Tragiker unter einander verglichen wer- den, ſo findet ſich zwar, daß Euripides von den beiden erſten in mehr als einer Beziehung abgeſondert werden muß. Das Weſen der ächten Aeſchyleiſchen und Sophokleiſchen Tragödie iſt durchaus auf jene höhere Sittlichkeit gegründet, welche der Geiſt und das Leben ihrer Zeit und ihrer Stadt war. Das Tragiſche ruht in ihren Werken nie auf dem bloß äußeren Unglück; die Nothwendigkeit erſcheint vielmehr mit dem Willen ſelbſt in unmittelbarem Streit und bekämpft ihn auf ſeinem eignen Boden. Der Prometheus des Aeſchylos leidet nicht bloß durch den äußeren Schmerz, ſondern viel tiefer durch das innere Gefühl des Unrechts und der Unterdrückung, und ſein Leiden äußert ſich nicht als Unterwerfung, da es nicht das Schickſal iſt, ſondern die Tyrannei des neuen Herrſchers der Götter, die ihm dieß Leiden bereitet, es
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Gegenſtände nicht bloß bedeutet, ſondern ſelbſt vor Augen ſtellt. Es
entſpricht alſo der plaſtiſchen Kunſt unter den redenden Künſten, und
ſchließt als die letzte Totalität ebenſo dieſe Seite der Kunſtwelt, wie
die Plaſtik die andere geſchloſſen hat.
Ueber Aeſchylos, Sophokles, Euripides.
Wenn man auf dieſe Weiſe das Weſen und die innere und äußere
Form der Tragödie aus ganz allgemeinen Gründen conſtruirt hat, und
ſich nun zu der Betrachtung der ächten Werke der griechiſchen Tragödie
wendet, und ſie durchaus dem, was ſich darüber ganz allgemein ein-
ſehen läßt, angemeſſen findet, ſo begreift man erſt vollſtändig die Reinheit
und Rationalität der griechiſchen Kunſt. Auch das Epos der Griechen
trägt dieſes Gepräge, aber es läßt ſich in ihm, weil ſein rationaler
Charakter ſelbſt mehr Zufälligkeit zuläßt, nicht ſo ſtreng und bis ins
Detail nachweiſen, wie an der griechiſchen Tragödie, die man faſt wie
eine geometriſche oder arithmetiſche Aufgabe anſehen kann, die völlig
rein und ohne Bruch aufgeht. Zum Weſen des Epos gehört es, daß
kein beſtimmter Anfang noch Ende. Das Gegentheil bei der Tragödie.
In ihr wird eben ein ſolches reines Aufgehen, ein abſolutes Geſchloſſen-
ſeyn gefordert, ohne daß irgend etwas noch unbefriedigt zurückbliebe.
Wenn die drei griechiſchen Tragiker unter einander verglichen wer-
den, ſo findet ſich zwar, daß Euripides von den beiden erſten in mehr
als einer Beziehung abgeſondert werden muß. Das Weſen der ächten
Aeſchyleiſchen und Sophokleiſchen Tragödie iſt durchaus auf jene höhere
Sittlichkeit gegründet, welche der Geiſt und das Leben ihrer Zeit und
ihrer Stadt war. Das Tragiſche ruht in ihren Werken nie auf dem
bloß äußeren Unglück; die Nothwendigkeit erſcheint vielmehr mit dem
Willen ſelbſt in unmittelbarem Streit und bekämpft ihn auf ſeinem
eignen Boden. Der Prometheus des Aeſchylos leidet nicht bloß durch
den äußeren Schmerz, ſondern viel tiefer durch das innere Gefühl
des Unrechts und der Unterdrückung, und ſein Leiden äußert ſich nicht
als Unterwerfung, da es nicht das Schickſal iſt, ſondern die Tyrannei
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 708. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/384>, abgerufen am 23.11.2024.
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