derjenige, dem dieß begegnet, von solchen sey, die zuvor im großen Glück und Ansehen gestanden, wie Oedipus, Thyestes u. a. Aristoteles setzt hinzu, daß aus diesem Grunde, da vor Zeiten die Dichter alle mög- lichen Fabeln auf die Bühne gebracht haben, jetzt -- zu seiner Zeit -- die besten Tragödien sich auf wenige Familien beschränken, wie auf den Oedipus, Orestes, Thyestes, Telephos und diejenigen, denen überhaupt begegnet wäre Großes zu leiden oder zu verüben.
Aristoteles hat, wie die Poesie überhaupt, so insbesondere auch die Tragödie mehr von der Verstandes- als von der Vernunft-Seite angesehen. Von der ersten betrachtet hat er den einzig höchsten Fall der Tragödie vollkommen bezeichnet. Derselbe Fall aber hat in allen den Beispielen, welche er selbst anführt, noch eine höhere Ansicht. Es ist die, daß die tragische Person nothwendig eines Verbrechens schuldig sey (und je höher die Schuld ist, wie die des Oedipus, desto tragischer oder verwickelter). Dieß ist das höchste denkbare Unglück, ohne wahre Schuld durch Verhängniß schuldig zu werden.
Es ist also nothwendig, daß die Schuld selbst wieder Noth- wendigkeit, und nicht sowohl, wie Aristoteles sagt, durch einen Irr- thum, als durch den Willen des Schicksals und ein unvermeidliches Verhängniß oder eine Rache der Götter zugezogen sey. Von dieser Art ist die Schuld des Oedipus. Ein Orakel weissagt dem Lajos, es sey im Schicksal ihm vorherbestimmt, von der Hand seines und der Jokaste Sohns erschlagen zu werden. Der kaum geborene Sohn wird nach drei Tagen an den Füßen gebunden in einem unwegsamen Ge- birg ausgesetzt. Ein Schäfer auf dem Gebirge findet das Kind oder erhält es aus den Händen eines Sclaven von Lajos Hause. Jener bringt das Kind in das Haus des Polybos, des angesehensten Bürgers von Korinth, wo es wegen der angeschwollenen Füße den Namen Oedipus erhält. Oedipus als er ins Jünglichsalter tritt, wird durch die Frechheit eines anderen, der ihn beim Trunk einen Bastard nennt, aus dem vermeinten elterlichen Hause fortgetrieben, und in Delphoi das Orakel wegen seiner Abkunft fragend erhält er darauf keine Antwort, wohl aber die Verkündung, er werde seiner Mutter beiwohnen, ein verhaßtes
derjenige, dem dieß begegnet, von ſolchen ſey, die zuvor im großen Glück und Anſehen geſtanden, wie Oedipus, Thyeſtes u. a. Ariſtoteles ſetzt hinzu, daß aus dieſem Grunde, da vor Zeiten die Dichter alle mög- lichen Fabeln auf die Bühne gebracht haben, jetzt — zu ſeiner Zeit — die beſten Tragödien ſich auf wenige Familien beſchränken, wie auf den Oedipus, Oreſtes, Thyeſtes, Telephos und diejenigen, denen überhaupt begegnet wäre Großes zu leiden oder zu verüben.
Ariſtoteles hat, wie die Poeſie überhaupt, ſo insbeſondere auch die Tragödie mehr von der Verſtandes- als von der Vernunft-Seite angeſehen. Von der erſten betrachtet hat er den einzig höchſten Fall der Tragödie vollkommen bezeichnet. Derſelbe Fall aber hat in allen den Beiſpielen, welche er ſelbſt anführt, noch eine höhere Anſicht. Es iſt die, daß die tragiſche Perſon nothwendig eines Verbrechens ſchuldig ſey (und je höher die Schuld iſt, wie die des Oedipus, deſto tragiſcher oder verwickelter). Dieß iſt das höchſte denkbare Unglück, ohne wahre Schuld durch Verhängniß ſchuldig zu werden.
Es iſt alſo nothwendig, daß die Schuld ſelbſt wieder Noth- wendigkeit, und nicht ſowohl, wie Ariſtoteles ſagt, durch einen Irr- thum, als durch den Willen des Schickſals und ein unvermeidliches Verhängniß oder eine Rache der Götter zugezogen ſey. Von dieſer Art iſt die Schuld des Oedipus. Ein Orakel weiſſagt dem Lajos, es ſey im Schickſal ihm vorherbeſtimmt, von der Hand ſeines und der Jokaſte Sohns erſchlagen zu werden. Der kaum geborene Sohn wird nach drei Tagen an den Füßen gebunden in einem unwegſamen Ge- birg ausgeſetzt. Ein Schäfer auf dem Gebirge findet das Kind oder erhält es aus den Händen eines Sclaven von Lajos Hauſe. Jener bringt das Kind in das Haus des Polybos, des angeſehenſten Bürgers von Korinth, wo es wegen der angeſchwollenen Füße den Namen Oedipus erhält. Oedipus als er ins Jünglichsalter tritt, wird durch die Frechheit eines anderen, der ihn beim Trunk einen Baſtard nennt, aus dem vermeinten elterlichen Hauſe fortgetrieben, und in Delphoi das Orakel wegen ſeiner Abkunft fragend erhält er darauf keine Antwort, wohl aber die Verkündung, er werde ſeiner Mutter beiwohnen, ein verhaßtes
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ſetzt hinzu, daß aus dieſem Grunde, da vor Zeiten die Dichter alle mög-
lichen Fabeln auf die Bühne gebracht haben, jetzt — zu ſeiner Zeit —
die beſten Tragödien ſich auf wenige Familien beſchränken, wie auf den
Oedipus, Oreſtes, Thyeſtes, Telephos und diejenigen, denen überhaupt
begegnet wäre Großes zu leiden oder zu verüben.
Ariſtoteles hat, wie die Poeſie überhaupt, ſo insbeſondere auch
die Tragödie mehr von der Verſtandes- als von der Vernunft-Seite
angeſehen. Von der erſten betrachtet hat er den einzig höchſten Fall
der Tragödie vollkommen bezeichnet. Derſelbe Fall aber hat in allen
den Beiſpielen, welche er ſelbſt anführt, noch eine höhere Anſicht. Es
iſt die, daß die tragiſche Perſon nothwendig eines Verbrechens
ſchuldig ſey (und je höher die Schuld iſt, wie die des Oedipus, deſto
tragiſcher oder verwickelter). Dieß iſt das höchſte denkbare Unglück,
ohne wahre Schuld durch Verhängniß ſchuldig zu werden.
Es iſt alſo nothwendig, daß die Schuld ſelbſt wieder Noth-
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Verhängniß oder eine Rache der Götter zugezogen ſey. Von dieſer
Art iſt die Schuld des Oedipus. Ein Orakel weiſſagt dem Lajos,
es ſey im Schickſal ihm vorherbeſtimmt, von der Hand ſeines und der
Jokaſte Sohns erſchlagen zu werden. Der kaum geborene Sohn wird
nach drei Tagen an den Füßen gebunden in einem unwegſamen Ge-
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erhält es aus den Händen eines Sclaven von Lajos Hauſe. Jener
bringt das Kind in das Haus des Polybos, des angeſehenſten Bürgers
von Korinth, wo es wegen der angeſchwollenen Füße den Namen Oedipus
erhält. Oedipus als er ins Jünglichsalter tritt, wird durch die Frechheit
eines anderen, der ihn beim Trunk einen Baſtard nennt, aus dem
vermeinten elterlichen Hauſe fortgetrieben, und in Delphoi das Orakel
wegen ſeiner Abkunft fragend erhält er darauf keine Antwort, wohl
aber die Verkündung, er werde ſeiner Mutter beiwohnen, ein verhaßtes
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 695. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/371>, abgerufen am 25.11.2024.
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