Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

und der Freiheit ausdrücke, ist im Allgemeinen schon beim lyrischen
und epischen Gedicht bewiesen worden. Aber die Poesie hat überhaupt
und in ihren höchsten Formen insbesondere diesen Gegensatz ohne Zweifel
in der höchsten Potenz, also als Gegensatz von Nothwendigkeit und
Freiheit darzustellen.

Im lyrischen Gedicht ist, wie gesagt, dieser Widerstreit, aber so
daß er als Streit und als Aufhebung des Streits nur im Subjekt ist
und ins Subjekt zurückfällt; daher im Ganzen das lyrische Gedicht
wieder vorzugsweise den Charakter der Freiheit an sich hat.

Im epischen Gedicht ist überhaupt kein Widerstreit; hier herrscht
die Nothwendigkeit als die Identität, nur daß sie, wie schon bemerkt,
eben weil kein Streit ist, auch nicht als Nothwendigkeit, inwiefern diese
Schicksal ist, sondern in der Identität mit der Freiheit, sogar zum
Theil als Zufall, erscheinen kann. Das epische Gedicht geht durchaus
mehr auf den Erfolg als auf die That. Im Erfolg kommt die
Nothwendigkeit oder das Glück der Freiheit zu Hülfe, und führt aus
was die Freiheit nicht ausführen kann. Hier also ist die Nothwendigkeit
mit der Freiheit einstimmig ohne alle Differenz. Deßwegen kann der
Held im Epos nicht unglücklich enden, ohne die Natur dieser Dichtart
aufzuheben. Achill, wenn die Hauptperson der Ilias, kann nicht über-
wunden werden, sowie Hektor, weil er überwunden werden kann, nicht
der Held der Ilias seyn kann. Aeneas ist nur als Eroberer von La-
tium und Gründer von Rom Held einer Epopee.

Wenn wir behaupten, daß im Epos die Identität oder die Noth-
wendigkeit das Herrschende sey, so könnte man einwenden, daß sie ihre
Kraft weit mehr beweisen würde, wenn sie das, was die Freiheit nicht
wollte, ausführte, als wenn sie umgekehrt mit der Freiheit eins ist und
ausführt, was diese beginnt. Allein 1) kann die Nothwendigkeit im Epos
nicht mit der Freiheit im Bunde erscheinen, ohne von der andern Seite
gegen sie zu wirken. Achill ist nicht Sieger, ohne daß Hektor unter-
liegt. 2) Wenn die Nothwendigkeit auf die angegebene Weise im Streit
gegen die Freiheit erschiene, daß sie dasjenige wollte, dem diese wider-
strebt, so würde der Held der Nothwendigkeit entweder unterliegen,

und der Freiheit ausdrücke, iſt im Allgemeinen ſchon beim lyriſchen
und epiſchen Gedicht bewieſen worden. Aber die Poeſie hat überhaupt
und in ihren höchſten Formen insbeſondere dieſen Gegenſatz ohne Zweifel
in der höchſten Potenz, alſo als Gegenſatz von Nothwendigkeit und
Freiheit darzuſtellen.

Im lyriſchen Gedicht iſt, wie geſagt, dieſer Widerſtreit, aber ſo
daß er als Streit und als Aufhebung des Streits nur im Subjekt iſt
und ins Subjekt zurückfällt; daher im Ganzen das lyriſche Gedicht
wieder vorzugsweiſe den Charakter der Freiheit an ſich hat.

Im epiſchen Gedicht iſt überhaupt kein Widerſtreit; hier herrſcht
die Nothwendigkeit als die Identität, nur daß ſie, wie ſchon bemerkt,
eben weil kein Streit iſt, auch nicht als Nothwendigkeit, inwiefern dieſe
Schickſal iſt, ſondern in der Identität mit der Freiheit, ſogar zum
Theil als Zufall, erſcheinen kann. Das epiſche Gedicht geht durchaus
mehr auf den Erfolg als auf die That. Im Erfolg kommt die
Nothwendigkeit oder das Glück der Freiheit zu Hülfe, und führt aus
was die Freiheit nicht ausführen kann. Hier alſo iſt die Nothwendigkeit
mit der Freiheit einſtimmig ohne alle Differenz. Deßwegen kann der
Held im Epos nicht unglücklich enden, ohne die Natur dieſer Dichtart
aufzuheben. Achill, wenn die Hauptperſon der Ilias, kann nicht über-
wunden werden, ſowie Hektor, weil er überwunden werden kann, nicht
der Held der Ilias ſeyn kann. Aeneas iſt nur als Eroberer von La-
tium und Gründer von Rom Held einer Epopee.

Wenn wir behaupten, daß im Epos die Identität oder die Noth-
wendigkeit das Herrſchende ſey, ſo könnte man einwenden, daß ſie ihre
Kraft weit mehr beweiſen würde, wenn ſie das, was die Freiheit nicht
wollte, ausführte, als wenn ſie umgekehrt mit der Freiheit eins iſt und
ausführt, was dieſe beginnt. Allein 1) kann die Nothwendigkeit im Epos
nicht mit der Freiheit im Bunde erſcheinen, ohne von der andern Seite
gegen ſie zu wirken. Achill iſt nicht Sieger, ohne daß Hektor unter-
liegt. 2) Wenn die Nothwendigkeit auf die angegebene Weiſe im Streit
gegen die Freiheit erſchiene, daß ſie dasjenige wollte, dem dieſe wider-
ſtrebt, ſo würde der Held der Nothwendigkeit entweder unterliegen,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0364" n="688"/>
und der Freiheit ausdrücke, i&#x017F;t im Allgemeinen &#x017F;chon beim lyri&#x017F;chen<lb/>
und epi&#x017F;chen Gedicht bewie&#x017F;en worden. Aber die Poe&#x017F;ie hat überhaupt<lb/>
und in ihren höch&#x017F;ten Formen insbe&#x017F;ondere die&#x017F;en Gegen&#x017F;atz ohne Zweifel<lb/>
in der höch&#x017F;ten Potenz, al&#x017F;o <hi rendition="#g">als</hi> Gegen&#x017F;atz von Nothwendigkeit und<lb/>
Freiheit darzu&#x017F;tellen.</p><lb/>
              <p>Im lyri&#x017F;chen Gedicht i&#x017F;t, wie ge&#x017F;agt, die&#x017F;er Wider&#x017F;treit, aber &#x017F;o<lb/>
daß er als Streit und als Aufhebung des Streits nur im Subjekt i&#x017F;t<lb/>
und ins Subjekt zurückfällt; daher im Ganzen das lyri&#x017F;che Gedicht<lb/>
wieder vorzugswei&#x017F;e den Charakter der Freiheit an &#x017F;ich hat.</p><lb/>
              <p>Im epi&#x017F;chen Gedicht i&#x017F;t überhaupt kein Wider&#x017F;treit; hier herr&#x017F;cht<lb/>
die Nothwendigkeit als die Identität, nur daß &#x017F;ie, wie &#x017F;chon bemerkt,<lb/>
eben weil kein Streit i&#x017F;t, auch nicht als Nothwendigkeit, inwiefern die&#x017F;e<lb/><hi rendition="#g">Schick&#x017F;al</hi> i&#x017F;t, &#x017F;ondern in der Identität mit der Freiheit, &#x017F;ogar zum<lb/>
Theil als Zufall, er&#x017F;cheinen kann. Das epi&#x017F;che Gedicht geht durchaus<lb/>
mehr auf den <hi rendition="#g">Erfolg</hi> als auf die That. Im Erfolg kommt die<lb/>
Nothwendigkeit oder das Glück der Freiheit zu Hülfe, und führt aus<lb/>
was die Freiheit nicht ausführen kann. Hier al&#x017F;o i&#x017F;t die Nothwendigkeit<lb/>
mit der Freiheit ein&#x017F;timmig ohne alle Differenz. Deßwegen kann der<lb/>
Held im Epos nicht unglücklich enden, ohne die Natur die&#x017F;er Dichtart<lb/>
aufzuheben. Achill, wenn die Hauptper&#x017F;on der Ilias, kann nicht über-<lb/>
wunden werden, &#x017F;owie Hektor, weil er überwunden werden kann, nicht<lb/>
der Held der Ilias &#x017F;eyn kann. Aeneas i&#x017F;t nur als Eroberer von La-<lb/>
tium und Gründer von Rom Held einer Epopee.</p><lb/>
              <p>Wenn wir behaupten, daß im Epos die Identität oder die Noth-<lb/>
wendigkeit das Herr&#x017F;chende &#x017F;ey, &#x017F;o könnte man einwenden, daß &#x017F;ie ihre<lb/>
Kraft weit mehr bewei&#x017F;en würde, wenn &#x017F;ie das, was die Freiheit nicht<lb/>
wollte, ausführte, als wenn &#x017F;ie umgekehrt mit der Freiheit eins i&#x017F;t und<lb/>
ausführt, was die&#x017F;e beginnt. Allein 1) kann die Nothwendigkeit im Epos<lb/>
nicht mit der Freiheit im Bunde er&#x017F;cheinen, ohne von der andern Seite<lb/>
gegen &#x017F;ie zu wirken. Achill i&#x017F;t nicht Sieger, ohne daß Hektor unter-<lb/>
liegt. 2) Wenn die Nothwendigkeit auf die angegebene Wei&#x017F;e im Streit<lb/>
gegen die Freiheit er&#x017F;chiene, daß &#x017F;ie dasjenige wollte, dem die&#x017F;e wider-<lb/>
&#x017F;trebt, &#x017F;o würde der Held der <hi rendition="#g">Nothwendigkeit</hi> entweder unterliegen,<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[688/0364] und der Freiheit ausdrücke, iſt im Allgemeinen ſchon beim lyriſchen und epiſchen Gedicht bewieſen worden. Aber die Poeſie hat überhaupt und in ihren höchſten Formen insbeſondere dieſen Gegenſatz ohne Zweifel in der höchſten Potenz, alſo als Gegenſatz von Nothwendigkeit und Freiheit darzuſtellen. Im lyriſchen Gedicht iſt, wie geſagt, dieſer Widerſtreit, aber ſo daß er als Streit und als Aufhebung des Streits nur im Subjekt iſt und ins Subjekt zurückfällt; daher im Ganzen das lyriſche Gedicht wieder vorzugsweiſe den Charakter der Freiheit an ſich hat. Im epiſchen Gedicht iſt überhaupt kein Widerſtreit; hier herrſcht die Nothwendigkeit als die Identität, nur daß ſie, wie ſchon bemerkt, eben weil kein Streit iſt, auch nicht als Nothwendigkeit, inwiefern dieſe Schickſal iſt, ſondern in der Identität mit der Freiheit, ſogar zum Theil als Zufall, erſcheinen kann. Das epiſche Gedicht geht durchaus mehr auf den Erfolg als auf die That. Im Erfolg kommt die Nothwendigkeit oder das Glück der Freiheit zu Hülfe, und führt aus was die Freiheit nicht ausführen kann. Hier alſo iſt die Nothwendigkeit mit der Freiheit einſtimmig ohne alle Differenz. Deßwegen kann der Held im Epos nicht unglücklich enden, ohne die Natur dieſer Dichtart aufzuheben. Achill, wenn die Hauptperſon der Ilias, kann nicht über- wunden werden, ſowie Hektor, weil er überwunden werden kann, nicht der Held der Ilias ſeyn kann. Aeneas iſt nur als Eroberer von La- tium und Gründer von Rom Held einer Epopee. Wenn wir behaupten, daß im Epos die Identität oder die Noth- wendigkeit das Herrſchende ſey, ſo könnte man einwenden, daß ſie ihre Kraft weit mehr beweiſen würde, wenn ſie das, was die Freiheit nicht wollte, ausführte, als wenn ſie umgekehrt mit der Freiheit eins iſt und ausführt, was dieſe beginnt. Allein 1) kann die Nothwendigkeit im Epos nicht mit der Freiheit im Bunde erſcheinen, ohne von der andern Seite gegen ſie zu wirken. Achill iſt nicht Sieger, ohne daß Hektor unter- liegt. 2) Wenn die Nothwendigkeit auf die angegebene Weiſe im Streit gegen die Freiheit erſchiene, daß ſie dasjenige wollte, dem dieſe wider- ſtrebt, ſo würde der Held der Nothwendigkeit entweder unterliegen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/364
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 688. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/364>, abgerufen am 17.05.2024.