Es ist schon früher in Ansehung des Epos bemerkt worden, daß in ihm der Zufall verstattet ist; noch mehr darf der Roman mit allen Mitteln schalten, die Ueberraschung, Verflechtung und Zufall an die Hand geben: nur darf freilich der Zufall nicht allein schalten, sonst tritt wieder ein grillenhaftes, einseitiges Princip an die Stelle des ächten Bildes vom Leben. Auf der anderen Seite ist, wenn der Ro- man vom Epos das Zufällige der Begebenheiten entlehnen darf, das Princip des Schicksals, welches in ihn durch seine Hinneigung zum Drama kommt, ebenfalls zu einseitig und dabei zu herbe für die um- fassendere und gefälligere Natur des Romans. Inwiefern Charakter auch eine Nothwendigkeit ist, die dem Menschen zum Schicksal werden kann, müssen im Roman Charakter und Zufall einander in die Hände arbeiten, und in dieser Stellung beider gegeneinander offenbart sich vor- züglich die Weisheit und Erfindung des Dichters.
Der Roman, da er seiner näheren Verwandtschaft mit dem Drama gemäß mehr auf Gegensätzen beruht als das Epos, muß diese vor- züglich zur Ironie und zur pittoresken Darstellung gebrauchen, wie das Tableau im Don Quixote, wo dieser und Cardenio im Walde gegen- einander über sitzend beide vernünftig aneinander theilnehmen, bis der Wahnsinn des einen den des anderen in Aufruhr setzt. Ueber- haupt also darf der Roman nach dem Pittoresken streben, denn so kann man allgemein nennen, was eine Art von dramatischer, nur flüchtigerer, Erscheinung ist. Es versteht sich, daß es stets einen Gehalt, einen Bezug auf das Gemüth, auf Sitten, Völker, Begeben- heiten habe. Was kann in dem angegebenen Sinn pittoresker seyn, als im Don Quixote Marcellas Erscheinung auf der Spitze des Felsens, an dessen Fuß der Schäfer begraben wird, den die Liebe für sie getödtet hat?
Wo der Boden der Dichtung es nicht begünstigt, muß der Dichter es erschaffen, wie Goethe im Wilhelm Meister; Mignon, der Harfner, das Haus des Onkels sind einzig sein Werk. Alles, was die Sitten Romantisches darbieten, muß herausgewendet und das Abenteuerliche nicht verschmäht werden, sobald es auch wieder zur Symbolik dienen
Es iſt ſchon früher in Anſehung des Epos bemerkt worden, daß in ihm der Zufall verſtattet iſt; noch mehr darf der Roman mit allen Mitteln ſchalten, die Ueberraſchung, Verflechtung und Zufall an die Hand geben: nur darf freilich der Zufall nicht allein ſchalten, ſonſt tritt wieder ein grillenhaftes, einſeitiges Princip an die Stelle des ächten Bildes vom Leben. Auf der anderen Seite iſt, wenn der Ro- man vom Epos das Zufällige der Begebenheiten entlehnen darf, das Princip des Schickſals, welches in ihn durch ſeine Hinneigung zum Drama kommt, ebenfalls zu einſeitig und dabei zu herbe für die um- faſſendere und gefälligere Natur des Romans. Inwiefern Charakter auch eine Nothwendigkeit iſt, die dem Menſchen zum Schickſal werden kann, müſſen im Roman Charakter und Zufall einander in die Hände arbeiten, und in dieſer Stellung beider gegeneinander offenbart ſich vor- züglich die Weisheit und Erfindung des Dichters.
Der Roman, da er ſeiner näheren Verwandtſchaft mit dem Drama gemäß mehr auf Gegenſätzen beruht als das Epos, muß dieſe vor- züglich zur Ironie und zur pittoresken Darſtellung gebrauchen, wie das Tableau im Don Quixote, wo dieſer und Cardenio im Walde gegen- einander über ſitzend beide vernünftig aneinander theilnehmen, bis der Wahnſinn des einen den des anderen in Aufruhr ſetzt. Ueber- haupt alſo darf der Roman nach dem Pittoresken ſtreben, denn ſo kann man allgemein nennen, was eine Art von dramatiſcher, nur flüchtigerer, Erſcheinung iſt. Es verſteht ſich, daß es ſtets einen Gehalt, einen Bezug auf das Gemüth, auf Sitten, Völker, Begeben- heiten habe. Was kann in dem angegebenen Sinn pittoresker ſeyn, als im Don Quixote Marcellas Erſcheinung auf der Spitze des Felſens, an deſſen Fuß der Schäfer begraben wird, den die Liebe für ſie getödtet hat?
Wo der Boden der Dichtung es nicht begünſtigt, muß der Dichter es erſchaffen, wie Goethe im Wilhelm Meiſter; Mignon, der Harfner, das Haus des Onkels ſind einzig ſein Werk. Alles, was die Sitten Romantiſches darbieten, muß herausgewendet und das Abenteuerliche nicht verſchmäht werden, ſobald es auch wieder zur Symbolik dienen
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Es iſt ſchon früher in Anſehung des Epos bemerkt worden, daß
in ihm der Zufall verſtattet iſt; noch mehr darf der Roman mit allen
Mitteln ſchalten, die Ueberraſchung, Verflechtung und Zufall an die
Hand geben: nur darf freilich der Zufall nicht allein ſchalten, ſonſt
tritt wieder ein grillenhaftes, einſeitiges Princip an die Stelle des
ächten Bildes vom Leben. Auf der anderen Seite iſt, wenn der Ro-
man vom Epos das Zufällige der Begebenheiten entlehnen darf, das
Princip des Schickſals, welches in ihn durch ſeine Hinneigung zum
Drama kommt, ebenfalls zu einſeitig und dabei zu herbe für die um-
faſſendere und gefälligere Natur des Romans. Inwiefern Charakter
auch eine Nothwendigkeit iſt, die dem Menſchen zum Schickſal werden
kann, müſſen im Roman Charakter und Zufall einander in die Hände
arbeiten, und in dieſer Stellung beider gegeneinander offenbart ſich vor-
züglich die Weisheit und Erfindung des Dichters.
Der Roman, da er ſeiner näheren Verwandtſchaft mit dem Drama
gemäß mehr auf Gegenſätzen beruht als das Epos, muß dieſe vor-
züglich zur Ironie und zur pittoresken Darſtellung gebrauchen, wie das
Tableau im Don Quixote, wo dieſer und Cardenio im Walde gegen-
einander über ſitzend beide vernünftig aneinander theilnehmen, bis
der Wahnſinn des einen den des anderen in Aufruhr ſetzt. Ueber-
haupt alſo darf der Roman nach dem Pittoresken ſtreben, denn ſo
kann man allgemein nennen, was eine Art von dramatiſcher, nur
flüchtigerer, Erſcheinung iſt. Es verſteht ſich, daß es ſtets einen
Gehalt, einen Bezug auf das Gemüth, auf Sitten, Völker, Begeben-
heiten habe. Was kann in dem angegebenen Sinn pittoresker ſeyn,
als im Don Quixote Marcellas Erſcheinung auf der Spitze des
Felſens, an deſſen Fuß der Schäfer begraben wird, den die Liebe
für ſie getödtet hat?
Wo der Boden der Dichtung es nicht begünſtigt, muß der Dichter
es erſchaffen, wie Goethe im Wilhelm Meiſter; Mignon, der Harfner,
das Haus des Onkels ſind einzig ſein Werk. Alles, was die Sitten
Romantiſches darbieten, muß herausgewendet und das Abenteuerliche
nicht verſchmäht werden, ſobald es auch wieder zur Symbolik dienen
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 677. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/353>, abgerufen am 25.11.2024.
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