dieser selbst allgemein und in der Beziehung aufs Universum gefaßt wird. In der Ermanglung der wahrhaft poetischen Ansicht des Gegen- standes selbst hat man alsdann auf verschiedene Weise ihn poetisch zu schmücken gesucht. Man hat die Vorstellungsarten und Bilder der Mythologie zu Hülfe gerufen. Man hat der Trockenheit des Gegen- standes durch geschichtliche Episoden aufzuhelfen gesucht, und was der- gleichen mehr ist. Mit dem allem kann nie ein wahrhaftes Lehr- gedicht, nämlich ein poetisches Werk dieser Art entstehen. Das Erste ist, daß das Darzustellende an und für sich selbst schon poetisch sey. Da nun das Darzustellende immer ein Wissen ist, so muß dieses Wissen an und für sich selbst und als Wissen schon zugleich poetisch seyn. Dieß ist aber nur einem absoluten Wissen, d. h. einem Wissen aus Ideen, möglich. Es gibt daher kein wahres Lehrgedicht, als in welchem unmittelbar oder mittelbar das All selbst, wie es im Wissen reflektirt wird, der Gegenstand ist. Da das Universum der Form und dem Wesen nach nur Eines ist, so kann auch in der Idee nur Ein absolutes Lehrgedicht seyn, von dem alle einzelnen bloße Bruch- stücke sind, nämlich das Gedicht von der Natur der Dinge. Ver- suche dieses speculativen Epos -- eines absoluten Lehrgedichts -- sind in Griechenland gemacht worden; ob sie ihr Ziel erreicht haben, können wir nur im Allgemeinen wissen, da uns die Zeit von ihnen nichts als Bruchstücke gelassen hat. Parmenides und Xenophanes, beide trugen ihre Philosophie in einem Gedicht von der Natur der Dinge vor, wie schon früher die Pythagoreer und Thales ihre Lehren poetisch überlie- ferten. Von dem Gedicht des Parmenides ist uns fast keine Nachricht geblieben, als daß es in sehr unvollkommenen und holperigen Versen verfaßt gewesen. Mehr wissen wir von dem Gedicht des Empedokles, welcher die Physik des Anaxagoras mit dem Ernst der pythagoreischen Weisheit verband. Wir können die Grenzen, inwieweit dieses Gedicht die Idee des Universums erreichte, ungefähr eben daraus bestimmen, daß es die Physik des Anaxagoras war, die ihm zu Grunde lag. Ich muß die Bekanntschaft derselben hier voraussetzen. Aber wenn es von der wissenschaftlichen Seite das speculative Urbild nicht erreichte, so
dieſer ſelbſt allgemein und in der Beziehung aufs Univerſum gefaßt wird. In der Ermanglung der wahrhaft poetiſchen Anſicht des Gegen- ſtandes ſelbſt hat man alsdann auf verſchiedene Weiſe ihn poetiſch zu ſchmücken geſucht. Man hat die Vorſtellungsarten und Bilder der Mythologie zu Hülfe gerufen. Man hat der Trockenheit des Gegen- ſtandes durch geſchichtliche Epiſoden aufzuhelfen geſucht, und was der- gleichen mehr iſt. Mit dem allem kann nie ein wahrhaftes Lehr- gedicht, nämlich ein poetiſches Werk dieſer Art entſtehen. Das Erſte iſt, daß das Darzuſtellende an und für ſich ſelbſt ſchon poetiſch ſey. Da nun das Darzuſtellende immer ein Wiſſen iſt, ſo muß dieſes Wiſſen an und für ſich ſelbſt und als Wiſſen ſchon zugleich poetiſch ſeyn. Dieß iſt aber nur einem abſoluten Wiſſen, d. h. einem Wiſſen aus Ideen, möglich. Es gibt daher kein wahres Lehrgedicht, als in welchem unmittelbar oder mittelbar das All ſelbſt, wie es im Wiſſen reflektirt wird, der Gegenſtand iſt. Da das Univerſum der Form und dem Weſen nach nur Eines iſt, ſo kann auch in der Idee nur Ein abſolutes Lehrgedicht ſeyn, von dem alle einzelnen bloße Bruch- ſtücke ſind, nämlich das Gedicht von der Natur der Dinge. Ver- ſuche dieſes ſpeculativen Epos — eines abſoluten Lehrgedichts — ſind in Griechenland gemacht worden; ob ſie ihr Ziel erreicht haben, können wir nur im Allgemeinen wiſſen, da uns die Zeit von ihnen nichts als Bruchſtücke gelaſſen hat. Parmenides und Xenophanes, beide trugen ihre Philoſophie in einem Gedicht von der Natur der Dinge vor, wie ſchon früher die Pythagoreer und Thales ihre Lehren poetiſch überlie- ferten. Von dem Gedicht des Parmenides iſt uns faſt keine Nachricht geblieben, als daß es in ſehr unvollkommenen und holperigen Verſen verfaßt geweſen. Mehr wiſſen wir von dem Gedicht des Empedokles, welcher die Phyſik des Anaxagoras mit dem Ernſt der pythagoreiſchen Weisheit verband. Wir können die Grenzen, inwieweit dieſes Gedicht die Idee des Univerſums erreichte, ungefähr eben daraus beſtimmen, daß es die Phyſik des Anaxagoras war, die ihm zu Grunde lag. Ich muß die Bekanntſchaft derſelben hier vorausſetzen. Aber wenn es von der wiſſenſchaftlichen Seite das ſpeculative Urbild nicht erreichte, ſo
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dieſer ſelbſt allgemein und in der Beziehung aufs Univerſum gefaßt
wird. In der Ermanglung der wahrhaft poetiſchen Anſicht des Gegen-
ſtandes ſelbſt hat man alsdann auf verſchiedene Weiſe ihn poetiſch zu
ſchmücken geſucht. Man hat die Vorſtellungsarten und Bilder der
Mythologie zu Hülfe gerufen. Man hat der Trockenheit des Gegen-
ſtandes durch geſchichtliche Epiſoden aufzuhelfen geſucht, und was der-
gleichen mehr iſt. Mit dem allem kann nie ein wahrhaftes Lehr-
gedicht, nämlich ein poetiſches Werk dieſer Art entſtehen. Das
Erſte iſt, daß das Darzuſtellende an und für ſich ſelbſt ſchon
poetiſch ſey. Da nun das Darzuſtellende immer ein Wiſſen iſt, ſo
muß dieſes Wiſſen an und für ſich ſelbſt und als Wiſſen ſchon zugleich
poetiſch ſeyn. Dieß iſt aber nur einem abſoluten Wiſſen, d. h. einem
Wiſſen aus Ideen, möglich. Es gibt daher kein wahres Lehrgedicht,
als in welchem unmittelbar oder mittelbar das All ſelbſt, wie es im
Wiſſen reflektirt wird, der Gegenſtand iſt. Da das Univerſum der
Form und dem Weſen nach nur Eines iſt, ſo kann auch in der Idee
nur Ein abſolutes Lehrgedicht ſeyn, von dem alle einzelnen bloße Bruch-
ſtücke ſind, nämlich das Gedicht von der Natur der Dinge. Ver-
ſuche dieſes ſpeculativen Epos — eines abſoluten Lehrgedichts — ſind
in Griechenland gemacht worden; ob ſie ihr Ziel erreicht haben, können
wir nur im Allgemeinen wiſſen, da uns die Zeit von ihnen nichts als
Bruchſtücke gelaſſen hat. Parmenides und Xenophanes, beide trugen
ihre Philoſophie in einem Gedicht von der Natur der Dinge vor, wie
ſchon früher die Pythagoreer und Thales ihre Lehren poetiſch überlie-
ferten. Von dem Gedicht des Parmenides iſt uns faſt keine Nachricht
geblieben, als daß es in ſehr unvollkommenen und holperigen Verſen
verfaßt geweſen. Mehr wiſſen wir von dem Gedicht des Empedokles,
welcher die Phyſik des Anaxagoras mit dem Ernſt der pythagoreiſchen
Weisheit verband. Wir können die Grenzen, inwieweit dieſes Gedicht
die Idee des Univerſums erreichte, ungefähr eben daraus beſtimmen,
daß es die Phyſik des Anaxagoras war, die ihm zu Grunde lag. Ich
muß die Bekanntſchaft derſelben hier vorausſetzen. Aber wenn es von
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 664. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/340>, abgerufen am 22.11.2024.
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