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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Differenzen, und zwischen dem einen Ton und dem folgenden eine wahre
Stetigkeit unmöglich ist, dagegen in Farben alle Differenzen wieder in
Eine Masse, wie aus Einem Guß, zusammenfließen.

Das An-sich aller lyrischen Poesie ist Darstellung des Unend-
lichen im Endlichen, aber da sie nur in der Succession sich bewegt, so
entsteht dadurch gleichsam als inneres Lebens- und Bewegungsprincip
der Gegensatz des Unendlichen und Endlichen. In dem Epos ist
Unendliches und Endliches absolut eins, deßwegen in diesem keine An-
regung des Unendlichen, nicht als ob es nicht da wäre, sondern weil
es in einer gemeinschaftlichen Einheit mit dem Endlichen ruht. Im
lyrischen Gedicht ist der Gegensatz erklärt. Daher die vorzüglichsten
Gegenstände des lyrischen Gedichts moralisch, kriegerisch, leidenschaft-
lich überhaupt.

Leidenschaft überhaupt ist der Charakter des Endlichen oder der
Besonderheit im Gegensatz mit der Allgemeinheit. Am reinsten und
ursprünglichsten stellt uns diesen Charakter der lyrischen Kunst, sowohl
ihrem Ursprung, als ihrer Beschaffenheit nach, wieder die antike
Poesie
dar. Die Entstehung und erste Entfaltung der lyrischen Poesie
in Griechenland ist gleichzeitig mit dem Aufblühen der Freiheit und Ent-
stehen des Republikanismus. Zuerst verband sich die Poesie mit den
Gesetzen und diente zur Ueberlieferung derselben. Bald wurde sie als
lyrische Kunst für Ruhm, Freiheit und schöne Geselligkeit begeistert.
Sie wurde die Seele des öffentlichen Lebens, die Verherrlicherin der
Feste. Die zuvor ganz nach außen gerichtete, in einer objektiven Iden-
tität, dem Epos, verlorene Kraft wandte sich nach innen, fing an sich
zu beschränken; mit diesem erwachenden Bewußtseyn und der eintreten-
den Differenziirung entstanden die ersten lyrischen Töne, die sich bald
zu der höchsten Mannichfaltigkeit entwickelten. Das Rhythmische der
griechischen Staaten, die ganz auf sich selbst und ihr Daseyn und
Wirken gerichtete Besonnenheit der Griechen entzündete die edleren Lei-
denschaften, die der lyrischen Muse würdig waren. Zu gleicher Zeit
mit der Lyrik belebte die Musik die Feste und das öffentliche Leben.
Im Homer sind sogar noch Opfer und Gottesdienste ohne Musik. Zu

Schelling, sämmtl. Werke. 1. Abth. V. 41

Differenzen, und zwiſchen dem einen Ton und dem folgenden eine wahre
Stetigkeit unmöglich iſt, dagegen in Farben alle Differenzen wieder in
Eine Maſſe, wie aus Einem Guß, zuſammenfließen.

Das An-ſich aller lyriſchen Poeſie iſt Darſtellung des Unend-
lichen im Endlichen, aber da ſie nur in der Succeſſion ſich bewegt, ſo
entſteht dadurch gleichſam als inneres Lebens- und Bewegungsprincip
der Gegenſatz des Unendlichen und Endlichen. In dem Epos iſt
Unendliches und Endliches abſolut eins, deßwegen in dieſem keine An-
regung des Unendlichen, nicht als ob es nicht da wäre, ſondern weil
es in einer gemeinſchaftlichen Einheit mit dem Endlichen ruht. Im
lyriſchen Gedicht iſt der Gegenſatz erklärt. Daher die vorzüglichſten
Gegenſtände des lyriſchen Gedichts moraliſch, kriegeriſch, leidenſchaft-
lich überhaupt.

Leidenſchaft überhaupt iſt der Charakter des Endlichen oder der
Beſonderheit im Gegenſatz mit der Allgemeinheit. Am reinſten und
urſprünglichſten ſtellt uns dieſen Charakter der lyriſchen Kunſt, ſowohl
ihrem Urſprung, als ihrer Beſchaffenheit nach, wieder die antike
Poeſie
dar. Die Entſtehung und erſte Entfaltung der lyriſchen Poeſie
in Griechenland iſt gleichzeitig mit dem Aufblühen der Freiheit und Ent-
ſtehen des Republikanismus. Zuerſt verband ſich die Poeſie mit den
Geſetzen und diente zur Ueberlieferung derſelben. Bald wurde ſie als
lyriſche Kunſt für Ruhm, Freiheit und ſchöne Geſelligkeit begeiſtert.
Sie wurde die Seele des öffentlichen Lebens, die Verherrlicherin der
Feſte. Die zuvor ganz nach außen gerichtete, in einer objektiven Iden-
tität, dem Epos, verlorene Kraft wandte ſich nach innen, fing an ſich
zu beſchränken; mit dieſem erwachenden Bewußtſeyn und der eintreten-
den Differenziirung entſtanden die erſten lyriſchen Töne, die ſich bald
zu der höchſten Mannichfaltigkeit entwickelten. Das Rhythmiſche der
griechiſchen Staaten, die ganz auf ſich ſelbſt und ihr Daſeyn und
Wirken gerichtete Beſonnenheit der Griechen entzündete die edleren Lei-
denſchaften, die der lyriſchen Muſe würdig waren. Zu gleicher Zeit
mit der Lyrik belebte die Muſik die Feſte und das öffentliche Leben.
Im Homer ſind ſogar noch Opfer und Gottesdienſte ohne Muſik. Zu

Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 41
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[641/0317] Differenzen, und zwiſchen dem einen Ton und dem folgenden eine wahre Stetigkeit unmöglich iſt, dagegen in Farben alle Differenzen wieder in Eine Maſſe, wie aus Einem Guß, zuſammenfließen. Das An-ſich aller lyriſchen Poeſie iſt Darſtellung des Unend- lichen im Endlichen, aber da ſie nur in der Succeſſion ſich bewegt, ſo entſteht dadurch gleichſam als inneres Lebens- und Bewegungsprincip der Gegenſatz des Unendlichen und Endlichen. In dem Epos iſt Unendliches und Endliches abſolut eins, deßwegen in dieſem keine An- regung des Unendlichen, nicht als ob es nicht da wäre, ſondern weil es in einer gemeinſchaftlichen Einheit mit dem Endlichen ruht. Im lyriſchen Gedicht iſt der Gegenſatz erklärt. Daher die vorzüglichſten Gegenſtände des lyriſchen Gedichts moraliſch, kriegeriſch, leidenſchaft- lich überhaupt. Leidenſchaft überhaupt iſt der Charakter des Endlichen oder der Beſonderheit im Gegenſatz mit der Allgemeinheit. Am reinſten und urſprünglichſten ſtellt uns dieſen Charakter der lyriſchen Kunſt, ſowohl ihrem Urſprung, als ihrer Beſchaffenheit nach, wieder die antike Poeſie dar. Die Entſtehung und erſte Entfaltung der lyriſchen Poeſie in Griechenland iſt gleichzeitig mit dem Aufblühen der Freiheit und Ent- ſtehen des Republikanismus. Zuerſt verband ſich die Poeſie mit den Geſetzen und diente zur Ueberlieferung derſelben. Bald wurde ſie als lyriſche Kunſt für Ruhm, Freiheit und ſchöne Geſelligkeit begeiſtert. Sie wurde die Seele des öffentlichen Lebens, die Verherrlicherin der Feſte. Die zuvor ganz nach außen gerichtete, in einer objektiven Iden- tität, dem Epos, verlorene Kraft wandte ſich nach innen, fing an ſich zu beſchränken; mit dieſem erwachenden Bewußtſeyn und der eintreten- den Differenziirung entſtanden die erſten lyriſchen Töne, die ſich bald zu der höchſten Mannichfaltigkeit entwickelten. Das Rhythmiſche der griechiſchen Staaten, die ganz auf ſich ſelbſt und ihr Daſeyn und Wirken gerichtete Beſonnenheit der Griechen entzündete die edleren Lei- denſchaften, die der lyriſchen Muſe würdig waren. Zu gleicher Zeit mit der Lyrik belebte die Muſik die Feſte und das öffentliche Leben. Im Homer ſind ſogar noch Opfer und Gottesdienſte ohne Muſik. Zu Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 41

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 641. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/317>, abgerufen am 25.11.2024.