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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Gesetze von dieser. Die zweite sey, wie die von der Diana geborene
Venus, mehr der Materie unterworfen, eine Tochter der Zeit und nur
eine Begleiterin der ersten. Diese lasse sich herunter von ihrer Hoheit,
ohne sich zu erniedrigen, und mache mit Mildigkeit denjenigen sich
bekannt, die auf sie aufmerksam sind. Jene andere aber sey sich selbst
genugsam und biete sich nicht an, sondern wolle gesucht seyn, und sey
zu erhaben, um sich sehr sinnlich zu machen. Diese höhere und geistigere
Grazie nun ist es, die in den Werken der höheren und älteren Künstler,
im olympischen Jupiter des Phidias, in der Gruppe der Niobe u. a.

Der zweite Styl der Kunst gesellte nun zu dem ersten oder zur
geistigen Anmuth die sinnliche, welche in der Mythologie durch den
Gürtel der Venus bedeutet wird. Zuerst in der Malerei (durch Parr-
hasius), wie begreiflich, da diese Kunst sich unmittelbarer zu ihr hinneigt.
Der Erste, der sie in Marmor und Erz ausdrückte, war Praxiteles,
der ebenso wie Apelles, der Maler der Grazie, in Jonien, dem Vater-
land des Homer in der Poesie und der harmonischen Säulenordnung
in der Architektur, geboren war.

Es erhellt schon aus der bisherigen Darstellung, daß die eigent-
lichen Meister des schönen Styls unmittelbar von der hohen, rhyth-
mischen Schönheit zu der vollendeten, welche die Wahrheit der Formen
mit der Anmuth der Verhältnisse verbindet, fortgingen, und daß die
der hohen Schönheit beraubte, bloß sinnliche Anmuth sich erst einfand,
nachdem die Kunst, welche durch jene zwei Stufen zu ihrem Culmina-
tionspunkt gelangt war, wieder nach der entgegengesetzten Richtung zu
sinken begann. Wenigstens, wenn es Werke der ächten Kunst gibt,
welche der sinnlichen Grazie vornehmlich geweiht scheinen, so ist der
Grund davon mehr in dem Gegenstand als in der Kunst zu suchen.
So war, wenn der Jupiter des Phidias ein Werk des hohen Styls
ist, die Venus des Praxiteles allerdings ein durch die sinnliche Anmuth
ausgezeichnetes Werk. Ein vollkommenes Beispiel der Verbindung der
hohen und geistigen Schönheit, in welcher keine Leidenschaft, sondern
nur Größe der Seele erscheint, mit der sinnlichen Anmuth ist die
Gruppe des Laokoon. Winkelmann hat in Ansehung derselben

Geſetze von dieſer. Die zweite ſey, wie die von der Diana geborene
Venus, mehr der Materie unterworfen, eine Tochter der Zeit und nur
eine Begleiterin der erſten. Dieſe laſſe ſich herunter von ihrer Hoheit,
ohne ſich zu erniedrigen, und mache mit Mildigkeit denjenigen ſich
bekannt, die auf ſie aufmerkſam ſind. Jene andere aber ſey ſich ſelbſt
genugſam und biete ſich nicht an, ſondern wolle geſucht ſeyn, und ſey
zu erhaben, um ſich ſehr ſinnlich zu machen. Dieſe höhere und geiſtigere
Grazie nun iſt es, die in den Werken der höheren und älteren Künſtler,
im olympiſchen Jupiter des Phidias, in der Gruppe der Niobe u. a.

Der zweite Styl der Kunſt geſellte nun zu dem erſten oder zur
geiſtigen Anmuth die ſinnliche, welche in der Mythologie durch den
Gürtel der Venus bedeutet wird. Zuerſt in der Malerei (durch Parr-
haſius), wie begreiflich, da dieſe Kunſt ſich unmittelbarer zu ihr hinneigt.
Der Erſte, der ſie in Marmor und Erz ausdrückte, war Praxiteles,
der ebenſo wie Apelles, der Maler der Grazie, in Jonien, dem Vater-
land des Homer in der Poeſie und der harmoniſchen Säulenordnung
in der Architektur, geboren war.

Es erhellt ſchon aus der bisherigen Darſtellung, daß die eigent-
lichen Meiſter des ſchönen Styls unmittelbar von der hohen, rhyth-
miſchen Schönheit zu der vollendeten, welche die Wahrheit der Formen
mit der Anmuth der Verhältniſſe verbindet, fortgingen, und daß die
der hohen Schönheit beraubte, bloß ſinnliche Anmuth ſich erſt einfand,
nachdem die Kunſt, welche durch jene zwei Stufen zu ihrem Culmina-
tionspunkt gelangt war, wieder nach der entgegengeſetzten Richtung zu
ſinken begann. Wenigſtens, wenn es Werke der ächten Kunſt gibt,
welche der ſinnlichen Grazie vornehmlich geweiht ſcheinen, ſo iſt der
Grund davon mehr in dem Gegenſtand als in der Kunſt zu ſuchen.
So war, wenn der Jupiter des Phidias ein Werk des hohen Styls
iſt, die Venus des Praxiteles allerdings ein durch die ſinnliche Anmuth
ausgezeichnetes Werk. Ein vollkommenes Beiſpiel der Verbindung der
hohen und geiſtigen Schönheit, in welcher keine Leidenſchaft, ſondern
nur Größe der Seele erſcheint, mit der ſinnlichen Anmuth iſt die
Gruppe des Laokoon. Winkelmann hat in Anſehung derſelben

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[613/0289] Geſetze von dieſer. Die zweite ſey, wie die von der Diana geborene Venus, mehr der Materie unterworfen, eine Tochter der Zeit und nur eine Begleiterin der erſten. Dieſe laſſe ſich herunter von ihrer Hoheit, ohne ſich zu erniedrigen, und mache mit Mildigkeit denjenigen ſich bekannt, die auf ſie aufmerkſam ſind. Jene andere aber ſey ſich ſelbſt genugſam und biete ſich nicht an, ſondern wolle geſucht ſeyn, und ſey zu erhaben, um ſich ſehr ſinnlich zu machen. Dieſe höhere und geiſtigere Grazie nun iſt es, die in den Werken der höheren und älteren Künſtler, im olympiſchen Jupiter des Phidias, in der Gruppe der Niobe u. a. Der zweite Styl der Kunſt geſellte nun zu dem erſten oder zur geiſtigen Anmuth die ſinnliche, welche in der Mythologie durch den Gürtel der Venus bedeutet wird. Zuerſt in der Malerei (durch Parr- haſius), wie begreiflich, da dieſe Kunſt ſich unmittelbarer zu ihr hinneigt. Der Erſte, der ſie in Marmor und Erz ausdrückte, war Praxiteles, der ebenſo wie Apelles, der Maler der Grazie, in Jonien, dem Vater- land des Homer in der Poeſie und der harmoniſchen Säulenordnung in der Architektur, geboren war. Es erhellt ſchon aus der bisherigen Darſtellung, daß die eigent- lichen Meiſter des ſchönen Styls unmittelbar von der hohen, rhyth- miſchen Schönheit zu der vollendeten, welche die Wahrheit der Formen mit der Anmuth der Verhältniſſe verbindet, fortgingen, und daß die der hohen Schönheit beraubte, bloß ſinnliche Anmuth ſich erſt einfand, nachdem die Kunſt, welche durch jene zwei Stufen zu ihrem Culmina- tionspunkt gelangt war, wieder nach der entgegengeſetzten Richtung zu ſinken begann. Wenigſtens, wenn es Werke der ächten Kunſt gibt, welche der ſinnlichen Grazie vornehmlich geweiht ſcheinen, ſo iſt der Grund davon mehr in dem Gegenſtand als in der Kunſt zu ſuchen. So war, wenn der Jupiter des Phidias ein Werk des hohen Styls iſt, die Venus des Praxiteles allerdings ein durch die ſinnliche Anmuth ausgezeichnetes Werk. Ein vollkommenes Beiſpiel der Verbindung der hohen und geiſtigen Schönheit, in welcher keine Leidenſchaft, ſondern nur Größe der Seele erſcheint, mit der ſinnlichen Anmuth iſt die Gruppe des Laokoon. Winkelmann hat in Anſehung derſelben

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 613. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/289>, abgerufen am 25.11.2024.