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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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aus der Verbindung des R[ - 1 Zeichen fehlt]ythmischen mit dem Harmoni-
schen
. -- Folgt schon aus dem Begriff der Melodie im §. 81. An-
schaulich aber kann es an der dritten Säulenordnung, der korinthischen,
nachgewiesen werden.

Zusatz. Die korinthische Säulenordnung ist vorzugsweise die
melodische. -- Vitruvius, dessen Bericht vom Ursprung der jonischen
Ordnung schon angeführt worden (es sey der Uebergang von den Pro-
portionen der männlichen Gestalt zu denen der weiblichen gewesen), sagt,
daß man in der korinthischen von den Proportionen des weiblichen
Körpers zu dem des jungfräulichen fortgegangen sey, und wenn dieser
Gedanke auch nicht eben der letzte Begriff ist, den man von dem Ur-
sprung dieser Säulenordnung geben kann, so dient er doch vollkommen
unsere Gedanken zu erläutern. Die korinthische Ordnung vereinigt mit
der harmonischen Weichheit der jonischen wieder die rhythmischen For-
men der dorischen, wie der jungfräuliche Leib mit der allgemeinen
Weichheit weiblicher Formen die größere Herbheit und Strenge der
jugendlichen Formen vereint. Schon die größere Schlankheit der korin-
thischen Säulen macht in ihnen den Rhythmus bemerklicher. Die
Erzählung des Vitruvius von dem Ursprung ihrer Erfindung ist bekannt.
Ein junges Mädchen, das eben verheirathet werden sollte, starb, und
ihre Amme setzte auf ihren Grabhügel in einem Korb einige kleine
Gefässe, die dieses Mädchen im Leben geliebt hatte, und damit diese
durch die Witterung nicht so bald verdorben würden, wenn jener offen
stände, legte sie einen Ziegel auf den Korb. Da nun dieser zufälliger
Weise auf die Wurzel einer Acanthuspflanze gesetzt war, so geschah es,
daß im Frühling, da die Blätter und Ranken hervorsproßten, diese an
dem auf der Mitte der Wurzel stehenden Korb rings emporwuchsen,
und die Ranken, welche dem Ziegel begegneten, genöthigt wurden, sich
an ihrer Extremität umzubeugen und Voluten zu bilden. Der Archi-
tekt Kallimachos ging vorbei und sah den Korb, wie er von den Blät-
tern umgeben, und da ihm diese Form ausnehmend gefiel, ahmte er
sie in den Säulen nach, die er nachher den Korinthern machte. Das
Auszeichnende der korinthischen Säule ist nämlich bekanntlich ein hohes

aus der Verbindung des R[ – 1 Zeichen fehlt]ythmiſchen mit dem Harmoni-
ſchen
. — Folgt ſchon aus dem Begriff der Melodie im §. 81. An-
ſchaulich aber kann es an der dritten Säulenordnung, der korinthiſchen,
nachgewieſen werden.

Zuſatz. Die korinthiſche Säulenordnung iſt vorzugsweiſe die
melodiſche. — Vitruvius, deſſen Bericht vom Urſprung der joniſchen
Ordnung ſchon angeführt worden (es ſey der Uebergang von den Pro-
portionen der männlichen Geſtalt zu denen der weiblichen geweſen), ſagt,
daß man in der korinthiſchen von den Proportionen des weiblichen
Körpers zu dem des jungfräulichen fortgegangen ſey, und wenn dieſer
Gedanke auch nicht eben der letzte Begriff iſt, den man von dem Ur-
ſprung dieſer Säulenordnung geben kann, ſo dient er doch vollkommen
unſere Gedanken zu erläutern. Die korinthiſche Ordnung vereinigt mit
der harmoniſchen Weichheit der joniſchen wieder die rhythmiſchen For-
men der doriſchen, wie der jungfräuliche Leib mit der allgemeinen
Weichheit weiblicher Formen die größere Herbheit und Strenge der
jugendlichen Formen vereint. Schon die größere Schlankheit der korin-
thiſchen Säulen macht in ihnen den Rhythmus bemerklicher. Die
Erzählung des Vitruvius von dem Urſprung ihrer Erfindung iſt bekannt.
Ein junges Mädchen, das eben verheirathet werden ſollte, ſtarb, und
ihre Amme ſetzte auf ihren Grabhügel in einem Korb einige kleine
Gefäſſe, die dieſes Mädchen im Leben geliebt hatte, und damit dieſe
durch die Witterung nicht ſo bald verdorben würden, wenn jener offen
ſtände, legte ſie einen Ziegel auf den Korb. Da nun dieſer zufälliger
Weiſe auf die Wurzel einer Acanthuspflanze geſetzt war, ſo geſchah es,
daß im Frühling, da die Blätter und Ranken hervorſproßten, dieſe an
dem auf der Mitte der Wurzel ſtehenden Korb rings emporwuchſen,
und die Ranken, welche dem Ziegel begegneten, genöthigt wurden, ſich
an ihrer Extremität umzubeugen und Voluten zu bilden. Der Archi-
tekt Kallimachos ging vorbei und ſah den Korb, wie er von den Blät-
tern umgeben, und da ihm dieſe Form ausnehmend gefiel, ahmte er
ſie in den Säulen nach, die er nachher den Korinthern machte. Das
Auszeichnende der korinthiſchen Säule iſt nämlich bekanntlich ein hohes

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[597/0273] aus der Verbindung des R_ythmiſchen mit dem Harmoni- ſchen. — Folgt ſchon aus dem Begriff der Melodie im §. 81. An- ſchaulich aber kann es an der dritten Säulenordnung, der korinthiſchen, nachgewieſen werden. Zuſatz. Die korinthiſche Säulenordnung iſt vorzugsweiſe die melodiſche. — Vitruvius, deſſen Bericht vom Urſprung der joniſchen Ordnung ſchon angeführt worden (es ſey der Uebergang von den Pro- portionen der männlichen Geſtalt zu denen der weiblichen geweſen), ſagt, daß man in der korinthiſchen von den Proportionen des weiblichen Körpers zu dem des jungfräulichen fortgegangen ſey, und wenn dieſer Gedanke auch nicht eben der letzte Begriff iſt, den man von dem Ur- ſprung dieſer Säulenordnung geben kann, ſo dient er doch vollkommen unſere Gedanken zu erläutern. Die korinthiſche Ordnung vereinigt mit der harmoniſchen Weichheit der joniſchen wieder die rhythmiſchen For- men der doriſchen, wie der jungfräuliche Leib mit der allgemeinen Weichheit weiblicher Formen die größere Herbheit und Strenge der jugendlichen Formen vereint. Schon die größere Schlankheit der korin- thiſchen Säulen macht in ihnen den Rhythmus bemerklicher. Die Erzählung des Vitruvius von dem Urſprung ihrer Erfindung iſt bekannt. Ein junges Mädchen, das eben verheirathet werden ſollte, ſtarb, und ihre Amme ſetzte auf ihren Grabhügel in einem Korb einige kleine Gefäſſe, die dieſes Mädchen im Leben geliebt hatte, und damit dieſe durch die Witterung nicht ſo bald verdorben würden, wenn jener offen ſtände, legte ſie einen Ziegel auf den Korb. Da nun dieſer zufälliger Weiſe auf die Wurzel einer Acanthuspflanze geſetzt war, ſo geſchah es, daß im Frühling, da die Blätter und Ranken hervorſproßten, dieſe an dem auf der Mitte der Wurzel ſtehenden Korb rings emporwuchſen, und die Ranken, welche dem Ziegel begegneten, genöthigt wurden, ſich an ihrer Extremität umzubeugen und Voluten zu bilden. Der Archi- tekt Kallimachos ging vorbei und ſah den Korb, wie er von den Blät- tern umgeben, und da ihm dieſe Form ausnehmend gefiel, ahmte er ſie in den Säulen nach, die er nachher den Korinthern machte. Das Auszeichnende der korinthiſchen Säule iſt nämlich bekanntlich ein hohes

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 597. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/273>, abgerufen am 21.05.2024.