Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

Dieß angewendet auf den vorliegenden Fall, so ist die Musik die an-
orgische Kunst, die Malerei organisch, denn sie drückt in der höchsten
Stufe die Identität der Materie und des Lichts aus. Erst in der
dritten Kunstform wird sie absoluter Ausdruck der Vernunft.

Wir behaupten nun: "die vollkommne Indifferenz der beiden Ein-
heiten, im Realen ausgedrückt, sey die Materie dem Wesen nach be-
trachtet." Das Wesen der Materie nämlich ist die Vernunft, deren
unmittelbarer Ausdruck im Stoff der Organismus ist, sowie der Or-
ganismus als das Wesen der anorgischen Materie sich wieder in dieser
symbolisirt. Die erste Potenz ist das bloße Anorgische, Geradlinige,
die Cohäsion. Der Kunst der ersten Potenz also, die bloß die erste
Potenz zum Mittel der Darstellung nimmt, wird die Cohäsion im
Klang zum Leib. Die zweite Potenz beruht auf dem Gleichseyn des
Lichts und des Körpers durch verschiedene Stufen: organisch. Endlich
die dritte Potenz ist das Wesen, das An-sich der ersten und der
zweiten Potenz; denn da die verschiedenen Potenzen sich bloß dadurch
von einander unterscheiden, daß in der ersten das Ganze, aber unter-
geordnet der Endlichkeit, ebenso in der zweiten das Ganze, aber unter-
geordnet der Unendlichkeit oder Identität erscheint, so ist in allen Po-
tenzen das Wesen oder An-sich dasselbe.

§. 105. Die Kunstform, welcher die Indifferenz der
beiden Einheiten oder das Wesen der Materie zum Leib
wird, ist Plastik in der allgemeinsten Bedeutung des
Worts
. -- Denn die Plastik stellt ihre Ideen durch reale körperliche
Gegenstände dar, anstatt daß die Musik von der Materie bloß das
Anorgische (die Form, das Accidens), die Malerei das rein Organische
als solches, das Wesen, das rein Ideale des Gegenstandes darstellt.
Die Plastik stellt in der realen Form zugleich das Wesen und das
Ideale der Dinge, demnach überhaupt die höchste Indifferenz des We-
sens und der Form dar.

Folgesatz 1. Die Plastik ist als Kunst ursprünglich der dritten
Dimension
untergeordnet.

Folgesatz 2. Wie die Musik im Ganzen die Kunst der Reflexion

Dieß angewendet auf den vorliegenden Fall, ſo iſt die Muſik die an-
orgiſche Kunſt, die Malerei organiſch, denn ſie drückt in der höchſten
Stufe die Identität der Materie und des Lichts aus. Erſt in der
dritten Kunſtform wird ſie abſoluter Ausdruck der Vernunft.

Wir behaupten nun: „die vollkommne Indifferenz der beiden Ein-
heiten, im Realen ausgedrückt, ſey die Materie dem Weſen nach be-
trachtet.“ Das Weſen der Materie nämlich iſt die Vernunft, deren
unmittelbarer Ausdruck im Stoff der Organismus iſt, ſowie der Or-
ganismus als das Weſen der anorgiſchen Materie ſich wieder in dieſer
ſymboliſirt. Die erſte Potenz iſt das bloße Anorgiſche, Geradlinige,
die Cohäſion. Der Kunſt der erſten Potenz alſo, die bloß die erſte
Potenz zum Mittel der Darſtellung nimmt, wird die Cohäſion im
Klang zum Leib. Die zweite Potenz beruht auf dem Gleichſeyn des
Lichts und des Körpers durch verſchiedene Stufen: organiſch. Endlich
die dritte Potenz iſt das Weſen, das An-ſich der erſten und der
zweiten Potenz; denn da die verſchiedenen Potenzen ſich bloß dadurch
von einander unterſcheiden, daß in der erſten das Ganze, aber unter-
geordnet der Endlichkeit, ebenſo in der zweiten das Ganze, aber unter-
geordnet der Unendlichkeit oder Identität erſcheint, ſo iſt in allen Po-
tenzen das Weſen oder An-ſich daſſelbe.

§. 105. Die Kunſtform, welcher die Indifferenz der
beiden Einheiten oder das Weſen der Materie zum Leib
wird, iſt Plaſtik in der allgemeinſten Bedeutung des
Worts
. — Denn die Plaſtik ſtellt ihre Ideen durch reale körperliche
Gegenſtände dar, anſtatt daß die Muſik von der Materie bloß das
Anorgiſche (die Form, das Accidens), die Malerei das rein Organiſche
als ſolches, das Weſen, das rein Ideale des Gegenſtandes darſtellt.
Die Plaſtik ſtellt in der realen Form zugleich das Weſen und das
Ideale der Dinge, demnach überhaupt die höchſte Indifferenz des We-
ſens und der Form dar.

Folgeſatz 1. Die Plaſtik iſt als Kunſt urſprünglich der dritten
Dimenſion
untergeordnet.

Folgeſatz 2. Wie die Muſik im Ganzen die Kunſt der Reflexion

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0246" n="570"/>
Dieß angewendet auf den vorliegenden Fall, &#x017F;o i&#x017F;t die Mu&#x017F;ik die an-<lb/>
orgi&#x017F;che Kun&#x017F;t, die Malerei organi&#x017F;ch, denn &#x017F;ie drückt in der höch&#x017F;ten<lb/>
Stufe die Identität der Materie und des Lichts aus. Er&#x017F;t in der<lb/>
dritten Kun&#x017F;tform wird &#x017F;ie ab&#x017F;oluter Ausdruck der Vernunft.</p><lb/>
            <p>Wir behaupten nun: &#x201E;die vollkommne Indifferenz der beiden Ein-<lb/>
heiten, im Realen ausgedrückt, &#x017F;ey die Materie dem <hi rendition="#g">We&#x017F;en</hi> nach be-<lb/>
trachtet.&#x201C; Das <hi rendition="#g">We&#x017F;en</hi> der Materie nämlich i&#x017F;t die Vernunft, deren<lb/>
unmittelbarer Ausdruck im Stoff der Organismus i&#x017F;t, &#x017F;owie der Or-<lb/>
ganismus als das We&#x017F;en der anorgi&#x017F;chen Materie &#x017F;ich wieder in die&#x017F;er<lb/>
&#x017F;ymboli&#x017F;irt. Die er&#x017F;te Potenz i&#x017F;t das bloße <hi rendition="#g">Anorgi&#x017F;che</hi>, Geradlinige,<lb/>
die Cohä&#x017F;ion. Der Kun&#x017F;t der <hi rendition="#g">er&#x017F;ten</hi> Potenz al&#x017F;o, die bloß die er&#x017F;te<lb/>
Potenz zum Mittel der Dar&#x017F;tellung nimmt, wird die Cohä&#x017F;ion im<lb/><hi rendition="#g">Klang</hi> zum Leib. Die zweite Potenz beruht auf dem Gleich&#x017F;eyn des<lb/>
Lichts und des Körpers durch ver&#x017F;chiedene Stufen: <hi rendition="#g">organi&#x017F;ch</hi>. Endlich<lb/>
die dritte Potenz i&#x017F;t das <hi rendition="#g">We&#x017F;en</hi>, das <hi rendition="#g">An-&#x017F;ich</hi> der er&#x017F;ten und der<lb/>
zweiten Potenz; denn da die ver&#x017F;chiedenen Potenzen &#x017F;ich bloß dadurch<lb/>
von einander unter&#x017F;cheiden, daß in der er&#x017F;ten das Ganze, aber unter-<lb/>
geordnet der Endlichkeit, eben&#x017F;o in der zweiten das Ganze, aber unter-<lb/>
geordnet der Unendlichkeit oder Identität er&#x017F;cheint, &#x017F;o i&#x017F;t in allen Po-<lb/>
tenzen das <hi rendition="#g">We&#x017F;en</hi> oder An-&#x017F;ich da&#x017F;&#x017F;elbe.</p><lb/>
            <p>§. 105. <hi rendition="#g">Die Kun&#x017F;tform, welcher die Indifferenz der<lb/>
beiden Einheiten oder das We&#x017F;en der Materie zum Leib<lb/>
wird, i&#x017F;t <hi rendition="#b">Pla&#x017F;tik</hi> in der allgemein&#x017F;ten Bedeutung des<lb/>
Worts</hi>. &#x2014; Denn die Pla&#x017F;tik &#x017F;tellt ihre Ideen durch reale körperliche<lb/>
Gegen&#x017F;tände dar, an&#x017F;tatt daß die Mu&#x017F;ik von der Materie bloß das<lb/>
Anorgi&#x017F;che (die Form, das Accidens), die Malerei das rein Organi&#x017F;che<lb/>
als &#x017F;olches, das We&#x017F;en, das rein Ideale des Gegen&#x017F;tandes dar&#x017F;tellt.<lb/>
Die Pla&#x017F;tik &#x017F;tellt in der realen Form zugleich das We&#x017F;en und das<lb/>
Ideale der Dinge, demnach überhaupt die höch&#x017F;te Indifferenz des We-<lb/>
&#x017F;ens und der Form dar.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Folge&#x017F;atz</hi> 1. Die Pla&#x017F;tik i&#x017F;t als Kun&#x017F;t ur&#x017F;prünglich der <hi rendition="#g">dritten<lb/>
Dimen&#x017F;ion</hi> untergeordnet.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Folge&#x017F;atz</hi> 2. Wie die Mu&#x017F;ik im Ganzen die Kun&#x017F;t der Reflexion<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[570/0246] Dieß angewendet auf den vorliegenden Fall, ſo iſt die Muſik die an- orgiſche Kunſt, die Malerei organiſch, denn ſie drückt in der höchſten Stufe die Identität der Materie und des Lichts aus. Erſt in der dritten Kunſtform wird ſie abſoluter Ausdruck der Vernunft. Wir behaupten nun: „die vollkommne Indifferenz der beiden Ein- heiten, im Realen ausgedrückt, ſey die Materie dem Weſen nach be- trachtet.“ Das Weſen der Materie nämlich iſt die Vernunft, deren unmittelbarer Ausdruck im Stoff der Organismus iſt, ſowie der Or- ganismus als das Weſen der anorgiſchen Materie ſich wieder in dieſer ſymboliſirt. Die erſte Potenz iſt das bloße Anorgiſche, Geradlinige, die Cohäſion. Der Kunſt der erſten Potenz alſo, die bloß die erſte Potenz zum Mittel der Darſtellung nimmt, wird die Cohäſion im Klang zum Leib. Die zweite Potenz beruht auf dem Gleichſeyn des Lichts und des Körpers durch verſchiedene Stufen: organiſch. Endlich die dritte Potenz iſt das Weſen, das An-ſich der erſten und der zweiten Potenz; denn da die verſchiedenen Potenzen ſich bloß dadurch von einander unterſcheiden, daß in der erſten das Ganze, aber unter- geordnet der Endlichkeit, ebenſo in der zweiten das Ganze, aber unter- geordnet der Unendlichkeit oder Identität erſcheint, ſo iſt in allen Po- tenzen das Weſen oder An-ſich daſſelbe. §. 105. Die Kunſtform, welcher die Indifferenz der beiden Einheiten oder das Weſen der Materie zum Leib wird, iſt Plaſtik in der allgemeinſten Bedeutung des Worts. — Denn die Plaſtik ſtellt ihre Ideen durch reale körperliche Gegenſtände dar, anſtatt daß die Muſik von der Materie bloß das Anorgiſche (die Form, das Accidens), die Malerei das rein Organiſche als ſolches, das Weſen, das rein Ideale des Gegenſtandes darſtellt. Die Plaſtik ſtellt in der realen Form zugleich das Weſen und das Ideale der Dinge, demnach überhaupt die höchſte Indifferenz des We- ſens und der Form dar. Folgeſatz 1. Die Plaſtik iſt als Kunſt urſprünglich der dritten Dimenſion untergeordnet. Folgeſatz 2. Wie die Muſik im Ganzen die Kunſt der Reflexion

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/246
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 570. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/246>, abgerufen am 03.05.2024.