Gegenwart stillt. Die Apostel erscheinen ohne gewaltsame Bewegung drohend und erschreckend. Im Attila ist Schrecken wahrzunehmen, und jener Ruhe und Stille der würdigeren Stelle steht die Unruhe und Bewegung auf der andern Seite entgegen, wo zum Abmarsch geblasen wird, und alles voll Verwirrung und Bestürzung sich zum Rückzug wendet. Ueberhaupt ist Raphael von Seiten der Höhe der Erfindung der einzig größte, und wenn wir im Vorhergehenden in Ansehung jeder der besonderen Kunstformen einen als den überwiegenden auszeichneten, in der Zeichnung den Michel Angelo, im Helldunkel Correggio, im Colorit Tizian, so müssen wir von Raphael behaupten, daß er alle diese Formen im Gleichgewicht besessen, und demnach der wahrhaft göttliche Priester der neueren Kunst ist. Den Michel Angelo trieb die Macht seines Geistes in der Zeichnung unwiderstehlich und fast aus- schließlich zum Gewaltsamen, Starken und Schrecklichen; nur in solchen Gegenständen konnte die wahre Tiefe seiner Kunst sichtbar werden. Den Correggio beschränkte seine große Kunst im Helldunkel im Zarten, Sanften und Gefälligen wieder in Ansehung der Gegenstände; er bedurfte derjenigen, welche vorzugsweise die Ausübung des ersten begün- stigen, und welche die Weichheit der Umrisse, das Schmeichelnde der Formen verstatten. Endlich war Tizian, als der höchste Meister im Colorit, damit am meisten auf die Wahrheit und die Nachahmung ein- geschränkt. In der Seele des Raphael ruhten alle diese Formen im gleichen Gewicht, Maß und Ziel, und da er keiner besonderen ver- bunden war, blieb sein Geist für die höhere Invention frei, sowie für die wahre Erkenntniß des Charakters der Alten, die er, der einzige unter den Neueren, bis zu einem gewissen Punkte erreicht hat. Seine Fruchtbarkeit führt ihn doch nie über die Grenze des Nothwendigen, und in aller Milde seines Gemüths bleibt doch die Strenge seines Geistes bestehen. Er verschmäht das Ueberflüssige, wirkt mit dem Ein- fachsten das Größte, und haucht damit seinen Werken ein solches objek- tives Leben ein, daß sie ganz in sich selbst bestehend, sich aus sich selbst entwickelnd und mit Nothwendigkeit erzeugend erscheinen. Daher, obgleich er sich über das gemeinhin Mögliche erhebt, doch die Wahrscheinlichkeit
Gegenwart ſtillt. Die Apoſtel erſcheinen ohne gewaltſame Bewegung drohend und erſchreckend. Im Attila iſt Schrecken wahrzunehmen, und jener Ruhe und Stille der würdigeren Stelle ſteht die Unruhe und Bewegung auf der andern Seite entgegen, wo zum Abmarſch geblaſen wird, und alles voll Verwirrung und Beſtürzung ſich zum Rückzug wendet. Ueberhaupt iſt Raphael von Seiten der Höhe der Erfindung der einzig größte, und wenn wir im Vorhergehenden in Anſehung jeder der beſonderen Kunſtformen einen als den überwiegenden auszeichneten, in der Zeichnung den Michel Angelo, im Helldunkel Correggio, im Colorit Tizian, ſo müſſen wir von Raphael behaupten, daß er alle dieſe Formen im Gleichgewicht beſeſſen, und demnach der wahrhaft göttliche Prieſter der neueren Kunſt iſt. Den Michel Angelo trieb die Macht ſeines Geiſtes in der Zeichnung unwiderſtehlich und faſt aus- ſchließlich zum Gewaltſamen, Starken und Schrecklichen; nur in ſolchen Gegenſtänden konnte die wahre Tiefe ſeiner Kunſt ſichtbar werden. Den Correggio beſchränkte ſeine große Kunſt im Helldunkel im Zarten, Sanften und Gefälligen wieder in Anſehung der Gegenſtände; er bedurfte derjenigen, welche vorzugsweiſe die Ausübung des erſten begün- ſtigen, und welche die Weichheit der Umriſſe, das Schmeichelnde der Formen verſtatten. Endlich war Tizian, als der höchſte Meiſter im Colorit, damit am meiſten auf die Wahrheit und die Nachahmung ein- geſchränkt. In der Seele des Raphael ruhten alle dieſe Formen im gleichen Gewicht, Maß und Ziel, und da er keiner beſonderen ver- bunden war, blieb ſein Geiſt für die höhere Invention frei, ſowie für die wahre Erkenntniß des Charakters der Alten, die er, der einzige unter den Neueren, bis zu einem gewiſſen Punkte erreicht hat. Seine Fruchtbarkeit führt ihn doch nie über die Grenze des Nothwendigen, und in aller Milde ſeines Gemüths bleibt doch die Strenge ſeines Geiſtes beſtehen. Er verſchmäht das Ueberflüſſige, wirkt mit dem Ein- fachſten das Größte, und haucht damit ſeinen Werken ein ſolches objek- tives Leben ein, daß ſie ganz in ſich ſelbſt beſtehend, ſich aus ſich ſelbſt entwickelnd und mit Nothwendigkeit erzeugend erſcheinen. Daher, obgleich er ſich über das gemeinhin Mögliche erhebt, doch die Wahrſcheinlichkeit
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Gegenwart ſtillt. Die Apoſtel erſcheinen ohne gewaltſame Bewegung
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jener Ruhe und Stille der würdigeren Stelle ſteht die Unruhe und
Bewegung auf der andern Seite entgegen, wo zum Abmarſch geblaſen
wird, und alles voll Verwirrung und Beſtürzung ſich zum Rückzug
wendet. Ueberhaupt iſt Raphael von Seiten der Höhe der Erfindung
der einzig größte, und wenn wir im Vorhergehenden in Anſehung jeder
der beſonderen Kunſtformen einen als den überwiegenden auszeichneten,
in der Zeichnung den Michel Angelo, im Helldunkel Correggio, im
Colorit Tizian, ſo müſſen wir von Raphael behaupten, daß er alle
dieſe Formen im Gleichgewicht beſeſſen, und demnach der wahrhaft
göttliche Prieſter der neueren Kunſt iſt. Den Michel Angelo trieb die
Macht ſeines Geiſtes in der Zeichnung unwiderſtehlich und faſt aus-
ſchließlich zum Gewaltſamen, Starken und Schrecklichen; nur in ſolchen
Gegenſtänden konnte die wahre Tiefe ſeiner Kunſt ſichtbar werden.
Den Correggio beſchränkte ſeine große Kunſt im Helldunkel im Zarten,
Sanften und Gefälligen wieder in Anſehung der Gegenſtände; er
bedurfte derjenigen, welche vorzugsweiſe die Ausübung des erſten begün-
ſtigen, und welche die Weichheit der Umriſſe, das Schmeichelnde der
Formen verſtatten. Endlich war Tizian, als der höchſte Meiſter im
Colorit, damit am meiſten auf die Wahrheit und die Nachahmung ein-
geſchränkt. In der Seele des Raphael ruhten alle dieſe Formen im
gleichen Gewicht, Maß und Ziel, und da er keiner beſonderen ver-
bunden war, blieb ſein Geiſt für die höhere Invention frei, ſowie für
die wahre Erkenntniß des Charakters der Alten, die er, der einzige
unter den Neueren, bis zu einem gewiſſen Punkte erreicht hat. Seine
Fruchtbarkeit führt ihn doch nie über die Grenze des Nothwendigen,
und in aller Milde ſeines Gemüths bleibt doch die Strenge ſeines
Geiſtes beſtehen. Er verſchmäht das Ueberflüſſige, wirkt mit dem Ein-
fachſten das Größte, und haucht damit ſeinen Werken ein ſolches objek-
tives Leben ein, daß ſie ganz in ſich ſelbſt beſtehend, ſich aus ſich ſelbſt
entwickelnd und mit Nothwendigkeit erzeugend erſcheinen. Daher, obgleich
er ſich über das gemeinhin Mögliche erhebt, doch die Wahrſcheinlichkeit
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 560. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/236>, abgerufen am 24.11.2024.
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