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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Die höchste Vermählung des Lichtes mit dem Stoffe, so daß das
Wesen ganz Stoff und ganz Licht wird, geschieht in der Produktion
des Fleisches. Das Fleisch ist das wahre Chaos aller Farben und
eben deßhalb keiner besonderen ähnlich, sondern die unauflöslichste und
schönste Mischung aller. Aber auch diese ganz einzige Art der Farbe
ist noch überdies nicht unbeweglich, wie die andern Arten der Farbe,
sondern lebendig und beweglich. Die inneren Regungen des Zorns, der
Scham, der Sehnsucht u. s. w. bewegen gleichsam jenes Farbenmeer,
und lassen es in bald sanfteren, bald stärkeren Wellen schlagen 1.

Dieses also ist die höchste Aufgabe des Colorits.

(Ich erinnere hier Folgendes. Jede Kunstform entspricht selbst einer
Dimension, und in jeder Kunstform ist dasjenige das Wesen, die Sub-
stanz, was ihrer Dimension am meisten entspricht. So fanden wir,
daß in der Musik Rhythmus die eigentliche Substanz dieser Kunst ist,
weil sie selbst der ersten Dimension untergeordnet ist. So wird es in
der Malerei das Helldunkel seyn, und Colorit ist zwar die dritte
Dimension, inwiefern darin Licht und Körper nicht bloß scheinbar,
sondern wahrhaft eins sind, Helldunkel aber ist gleichwohl die Substanz
der Malerei als solcher, weil diese selbst nur auf der zweiten Dimension
beruht).

Wer die Gemälde des Tizian gesehen hat, dessen, der in dieser
Beziehung als der Erste zu nennen ist, hat von selbst die Einsicht und
das Gefühl, daß eine vollkommenere Identification des Lichts und des
Stoffes nicht denkbar sey, als er erreicht hat.

Eine größere Ausbreitung hat die Kunst des Colorits in größeren
Compositionen, wo seine höchste Vollendung im Ganzen das ist,
was man Harmonie der Farben nennen kann. Die Forderung ist hier:
nicht nur daß dem Einzelnen in Ansehung der Farbe sein Recht wider-
fahre, sondern daß auch das Ganze wieder einen harmonischen Eindruck
mache und die Seele in der höchsten Lust, zwischen gestörtem und
wiederhergestelltem Gleichgewicht, in Bewegung zugleich und Ruhe,
gleichsam schwebend erhalte.

1 Man vergl. "Diderots Versuch über die Malerei" bei Goethe.

Die höchſte Vermählung des Lichtes mit dem Stoffe, ſo daß das
Weſen ganz Stoff und ganz Licht wird, geſchieht in der Produktion
des Fleiſches. Das Fleiſch iſt das wahre Chaos aller Farben und
eben deßhalb keiner beſonderen ähnlich, ſondern die unauflöslichſte und
ſchönſte Miſchung aller. Aber auch dieſe ganz einzige Art der Farbe
iſt noch überdies nicht unbeweglich, wie die andern Arten der Farbe,
ſondern lebendig und beweglich. Die inneren Regungen des Zorns, der
Scham, der Sehnſucht u. ſ. w. bewegen gleichſam jenes Farbenmeer,
und laſſen es in bald ſanfteren, bald ſtärkeren Wellen ſchlagen 1.

Dieſes alſo iſt die höchſte Aufgabe des Colorits.

(Ich erinnere hier Folgendes. Jede Kunſtform entſpricht ſelbſt einer
Dimenſion, und in jeder Kunſtform iſt dasjenige das Weſen, die Sub-
ſtanz, was ihrer Dimenſion am meiſten entſpricht. So fanden wir,
daß in der Muſik Rhythmus die eigentliche Subſtanz dieſer Kunſt iſt,
weil ſie ſelbſt der erſten Dimenſion untergeordnet iſt. So wird es in
der Malerei das Helldunkel ſeyn, und Colorit iſt zwar die dritte
Dimenſion, inwiefern darin Licht und Körper nicht bloß ſcheinbar,
ſondern wahrhaft eins ſind, Helldunkel aber iſt gleichwohl die Subſtanz
der Malerei als ſolcher, weil dieſe ſelbſt nur auf der zweiten Dimenſion
beruht).

Wer die Gemälde des Tizian geſehen hat, deſſen, der in dieſer
Beziehung als der Erſte zu nennen iſt, hat von ſelbſt die Einſicht und
das Gefühl, daß eine vollkommenere Identification des Lichts und des
Stoffes nicht denkbar ſey, als er erreicht hat.

Eine größere Ausbreitung hat die Kunſt des Colorits in größeren
Compoſitionen, wo ſeine höchſte Vollendung im Ganzen das iſt,
was man Harmonie der Farben nennen kann. Die Forderung iſt hier:
nicht nur daß dem Einzelnen in Anſehung der Farbe ſein Recht wider-
fahre, ſondern daß auch das Ganze wieder einen harmoniſchen Eindruck
mache und die Seele in der höchſten Luſt, zwiſchen geſtörtem und
wiederhergeſtelltem Gleichgewicht, in Bewegung zugleich und Ruhe,
gleichſam ſchwebend erhalte.

1 Man vergl. „Diderots Verſuch über die Malerei“ bei Goethe.
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[540/0216] Die höchſte Vermählung des Lichtes mit dem Stoffe, ſo daß das Weſen ganz Stoff und ganz Licht wird, geſchieht in der Produktion des Fleiſches. Das Fleiſch iſt das wahre Chaos aller Farben und eben deßhalb keiner beſonderen ähnlich, ſondern die unauflöslichſte und ſchönſte Miſchung aller. Aber auch dieſe ganz einzige Art der Farbe iſt noch überdies nicht unbeweglich, wie die andern Arten der Farbe, ſondern lebendig und beweglich. Die inneren Regungen des Zorns, der Scham, der Sehnſucht u. ſ. w. bewegen gleichſam jenes Farbenmeer, und laſſen es in bald ſanfteren, bald ſtärkeren Wellen ſchlagen 1. Dieſes alſo iſt die höchſte Aufgabe des Colorits. (Ich erinnere hier Folgendes. Jede Kunſtform entſpricht ſelbſt einer Dimenſion, und in jeder Kunſtform iſt dasjenige das Weſen, die Sub- ſtanz, was ihrer Dimenſion am meiſten entſpricht. So fanden wir, daß in der Muſik Rhythmus die eigentliche Subſtanz dieſer Kunſt iſt, weil ſie ſelbſt der erſten Dimenſion untergeordnet iſt. So wird es in der Malerei das Helldunkel ſeyn, und Colorit iſt zwar die dritte Dimenſion, inwiefern darin Licht und Körper nicht bloß ſcheinbar, ſondern wahrhaft eins ſind, Helldunkel aber iſt gleichwohl die Subſtanz der Malerei als ſolcher, weil dieſe ſelbſt nur auf der zweiten Dimenſion beruht). Wer die Gemälde des Tizian geſehen hat, deſſen, der in dieſer Beziehung als der Erſte zu nennen iſt, hat von ſelbſt die Einſicht und das Gefühl, daß eine vollkommenere Identification des Lichts und des Stoffes nicht denkbar ſey, als er erreicht hat. Eine größere Ausbreitung hat die Kunſt des Colorits in größeren Compoſitionen, wo ſeine höchſte Vollendung im Ganzen das iſt, was man Harmonie der Farben nennen kann. Die Forderung iſt hier: nicht nur daß dem Einzelnen in Anſehung der Farbe ſein Recht wider- fahre, ſondern daß auch das Ganze wieder einen harmoniſchen Eindruck mache und die Seele in der höchſten Luſt, zwiſchen geſtörtem und wiederhergeſtelltem Gleichgewicht, in Bewegung zugleich und Ruhe, gleichſam ſchwebend erhalte. 1 Man vergl. „Diderots Verſuch über die Malerei“ bei Goethe.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 540. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/216>, abgerufen am 24.11.2024.