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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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sinnlichen Wahrheit aufgenommen wird. Es gibt keinen kategorischen Im-
perativ der Illusion. Aber es existirt auch keiner dagegen. Schon dieß,
daß die Kunst in der Hervorbringung der Täuschung oder des Scheins
bis zur empirischen Wahrheit frei ist, beweist, daß sie hierin über die
Grenze der strengen Gesetzmäßigkeit schreitet -- in das Reich der Frei-
heit, der Individualität, wo das Individuum sich selbst Gesetz wird.
Dieß ist allgemein die Sphäre des Modernen, und deßwegen Correggio
als der erste in dieser zu setzen. Der Styl in dieser Sphäre ist der
Styl der Grazie, der Anmuth, für welche keine kategorische Forderung
existirt, obgleich sie nie überflüssig ist. Ebenso ist er beschränkt auf
gewisse Sujets, daher nur an Correggio schön. Der Styl der andern
Art ist der hohe, strenge Styl, weil es für diesen eine absolute For-
derung gibt, und der Schein ihm nur Bedingung der Wahrheit ist.

Hieraus erhellt, daß eine sehr hohe, ja in ihrer Sphäre absolute
Art der Kunst in der Malerei ohne den Gebrauch des Helldunkels ist
(außer inwiefern es zur Wahrheit, nicht aber zur Täuschung erforderlich).
Von dieser Art war ohne Zweifel der erste Styl der alten Malerei im
Vergleich mit dem des Parrhasius und Apelles, welcher vorzugsweise der
Maler der Grazie hieß. Von dieser Art ist in der neueren Zeit der
Styl nicht nur des Michel Angelo, sondern auch des Raphael, dessen
streng angegebene Formen vielen gegen die Weichheit der Umrisse und
die rundlich sanften Formen des Correggio hart und steif geschienen
haben, wie etwa, nach Winkelmanns Vergleichung, der Pindarische
Rhythmus oder die Strenge des Lucretius gegen die Horazische Lieb-
lichkeit und die Weichheit des Tibullus rauh oder vernachlässigt klingen
mag. Dieses sage ich nicht zum Nachtheil des Correggio; er ist der
erste und einzige in seiner Sphäre (ja dieser göttliche Mensch ist
eigentlich der Maler aller Maler), wie Michel Angelo in der seinigen,
der Zeichnung, obgleich das höchste und wahrhaft absolute Wesen der
Kunst nur in dem Raphael erschienen. -- Es ist nothwendig und ge-
gründet in viel allgemeineren Ansichten, daß jede der besonderen For-
men wieder in sich absolut, sich für sich zu einer Welt ausbilden könne,
wie dieß auch historisch nach dem, was wir noch ferner finden werden,

ſinnlichen Wahrheit aufgenommen wird. Es gibt keinen kategoriſchen Im-
perativ der Illuſion. Aber es exiſtirt auch keiner dagegen. Schon dieß,
daß die Kunſt in der Hervorbringung der Täuſchung oder des Scheins
bis zur empiriſchen Wahrheit frei iſt, beweist, daß ſie hierin über die
Grenze der ſtrengen Geſetzmäßigkeit ſchreitet — in das Reich der Frei-
heit, der Individualität, wo das Individuum ſich ſelbſt Geſetz wird.
Dieß iſt allgemein die Sphäre des Modernen, und deßwegen Correggio
als der erſte in dieſer zu ſetzen. Der Styl in dieſer Sphäre iſt der
Styl der Grazie, der Anmuth, für welche keine kategoriſche Forderung
exiſtirt, obgleich ſie nie überflüſſig iſt. Ebenſo iſt er beſchränkt auf
gewiſſe Sujets, daher nur an Correggio ſchön. Der Styl der andern
Art iſt der hohe, ſtrenge Styl, weil es für dieſen eine abſolute For-
derung gibt, und der Schein ihm nur Bedingung der Wahrheit iſt.

Hieraus erhellt, daß eine ſehr hohe, ja in ihrer Sphäre abſolute
Art der Kunſt in der Malerei ohne den Gebrauch des Helldunkels iſt
(außer inwiefern es zur Wahrheit, nicht aber zur Täuſchung erforderlich).
Von dieſer Art war ohne Zweifel der erſte Styl der alten Malerei im
Vergleich mit dem des Parrhaſius und Apelles, welcher vorzugsweiſe der
Maler der Grazie hieß. Von dieſer Art iſt in der neueren Zeit der
Styl nicht nur des Michel Angelo, ſondern auch des Raphael, deſſen
ſtreng angegebene Formen vielen gegen die Weichheit der Umriſſe und
die rundlich ſanften Formen des Correggio hart und ſteif geſchienen
haben, wie etwa, nach Winkelmanns Vergleichung, der Pindariſche
Rhythmus oder die Strenge des Lucretius gegen die Horaziſche Lieb-
lichkeit und die Weichheit des Tibullus rauh oder vernachläſſigt klingen
mag. Dieſes ſage ich nicht zum Nachtheil des Correggio; er iſt der
erſte und einzige in ſeiner Sphäre (ja dieſer göttliche Menſch iſt
eigentlich der Maler aller Maler), wie Michel Angelo in der ſeinigen,
der Zeichnung, obgleich das höchſte und wahrhaft abſolute Weſen der
Kunſt nur in dem Raphael erſchienen. — Es iſt nothwendig und ge-
gründet in viel allgemeineren Anſichten, daß jede der beſonderen For-
men wieder in ſich abſolut, ſich für ſich zu einer Welt ausbilden könne,
wie dieß auch hiſtoriſch nach dem, was wir noch ferner finden werden,

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[537/0213] ſinnlichen Wahrheit aufgenommen wird. Es gibt keinen kategoriſchen Im- perativ der Illuſion. Aber es exiſtirt auch keiner dagegen. Schon dieß, daß die Kunſt in der Hervorbringung der Täuſchung oder des Scheins bis zur empiriſchen Wahrheit frei iſt, beweist, daß ſie hierin über die Grenze der ſtrengen Geſetzmäßigkeit ſchreitet — in das Reich der Frei- heit, der Individualität, wo das Individuum ſich ſelbſt Geſetz wird. Dieß iſt allgemein die Sphäre des Modernen, und deßwegen Correggio als der erſte in dieſer zu ſetzen. Der Styl in dieſer Sphäre iſt der Styl der Grazie, der Anmuth, für welche keine kategoriſche Forderung exiſtirt, obgleich ſie nie überflüſſig iſt. Ebenſo iſt er beſchränkt auf gewiſſe Sujets, daher nur an Correggio ſchön. Der Styl der andern Art iſt der hohe, ſtrenge Styl, weil es für dieſen eine abſolute For- derung gibt, und der Schein ihm nur Bedingung der Wahrheit iſt. Hieraus erhellt, daß eine ſehr hohe, ja in ihrer Sphäre abſolute Art der Kunſt in der Malerei ohne den Gebrauch des Helldunkels iſt (außer inwiefern es zur Wahrheit, nicht aber zur Täuſchung erforderlich). Von dieſer Art war ohne Zweifel der erſte Styl der alten Malerei im Vergleich mit dem des Parrhaſius und Apelles, welcher vorzugsweiſe der Maler der Grazie hieß. Von dieſer Art iſt in der neueren Zeit der Styl nicht nur des Michel Angelo, ſondern auch des Raphael, deſſen ſtreng angegebene Formen vielen gegen die Weichheit der Umriſſe und die rundlich ſanften Formen des Correggio hart und ſteif geſchienen haben, wie etwa, nach Winkelmanns Vergleichung, der Pindariſche Rhythmus oder die Strenge des Lucretius gegen die Horaziſche Lieb- lichkeit und die Weichheit des Tibullus rauh oder vernachläſſigt klingen mag. Dieſes ſage ich nicht zum Nachtheil des Correggio; er iſt der erſte und einzige in ſeiner Sphäre (ja dieſer göttliche Menſch iſt eigentlich der Maler aller Maler), wie Michel Angelo in der ſeinigen, der Zeichnung, obgleich das höchſte und wahrhaft abſolute Weſen der Kunſt nur in dem Raphael erſchienen. — Es iſt nothwendig und ge- gründet in viel allgemeineren Anſichten, daß jede der beſonderen For- men wieder in ſich abſolut, ſich für ſich zu einer Welt ausbilden könne, wie dieß auch hiſtoriſch nach dem, was wir noch ferner finden werden,

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/213>, abgerufen am 24.11.2024.