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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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zugleich durch den Gehörsinn Gefordertes. Dasselbe ist der Fall mit
dem Gesichtssinn, dessen Forderungen das tiefste Studium des Künstlers
seyn müssen, der auf dieses zarteste aller Organe wirken will. Das
Auge fordert in allem, was ihm als wohlgefällig dargeboten werden
soll, die Harmonie der Farben nach derselben Nothwendigkeit und den-
selben Gesetzen, nach welchen sie in der äußeren Erscheinung producirt
wird. Die höchste Lust des Auges ist, indem es aus der ermüdenden
Identität gesetzt wird, in der höchsten Differenz doch wieder durch die
Totalität in ein vollkommenes Gleichgewicht gesetzt zu werden. Deß-
wegen fordert das Auge im Allgemeinen in jedem Gemälde Totalität
der Farben, und es bedarf nur geringes Studium und Aufmerksamkeit,
um zu finden, welch ein vollkommenes Gefühl dieser Forderung die
größten Meister geleitet hat. Sehr häufig findet man diese Forderung
in großen Compositionen nicht bloß insofern befriedigt, als die Totalität
der Farben zu denselben nothwendig war; nicht selten findet man
die Forderung einer Farbe, für welche in dem Hauptgegenstand kein
Grund lag, durch einen Nebengegenstand befriedigt, z. B. die Forderung
des Gelb oder irgend einer andern Farbe durch Früchte, Blumen u. s. w.,
die in dem Gemälde angebracht sind.

Aber auch da, wo das Auge von der Forderung der vollkommenen
Totalität absteht, macht es doch immer die Forderung der entsprechenden
Farben geltend. Dieß ist vorzüglich deutlich in der Erscheinung der
sogenannten physiologischen Farben. Das Auge z. B., welches durch den
Reiz des Rothen ermüdet ist, producirt, nachdem dieser Reiz entfernt ist,
von freien Stücken die grüne Farbe, oder bestimmter von Blau und Gelb
als Farben das, was denselben am unmittelbarsten entgegengesetzt
ist, die Indifferenz. In dem Farbenbild schließen sich Grün und
Purpur aus. Eben weil beide sich ausschließen, fordert sie das Auge.
Ermüdet durch das Grün fordert das Auge Purpur oder die entsprechende
Totalität von Violett und Roth. Durch Purpur das vollkommenste Grün.
So auch in der Kunst. Die Verbindung von Purpur und Grün z. B. in
Gewändern bringt die höchste Pracht hervor. -- Ich stelle nun einen
weiteren Satz auf, dem ich nur noch folgendes Allgemeine voranschicke.

zugleich durch den Gehörſinn Gefordertes. Daſſelbe iſt der Fall mit
dem Geſichtsſinn, deſſen Forderungen das tiefſte Studium des Künſtlers
ſeyn müſſen, der auf dieſes zarteſte aller Organe wirken will. Das
Auge fordert in allem, was ihm als wohlgefällig dargeboten werden
ſoll, die Harmonie der Farben nach derſelben Nothwendigkeit und den-
ſelben Geſetzen, nach welchen ſie in der äußeren Erſcheinung producirt
wird. Die höchſte Luſt des Auges iſt, indem es aus der ermüdenden
Identität geſetzt wird, in der höchſten Differenz doch wieder durch die
Totalität in ein vollkommenes Gleichgewicht geſetzt zu werden. Deß-
wegen fordert das Auge im Allgemeinen in jedem Gemälde Totalität
der Farben, und es bedarf nur geringes Studium und Aufmerkſamkeit,
um zu finden, welch ein vollkommenes Gefühl dieſer Forderung die
größten Meiſter geleitet hat. Sehr häufig findet man dieſe Forderung
in großen Compoſitionen nicht bloß inſofern befriedigt, als die Totalität
der Farben zu denſelben nothwendig war; nicht ſelten findet man
die Forderung einer Farbe, für welche in dem Hauptgegenſtand kein
Grund lag, durch einen Nebengegenſtand befriedigt, z. B. die Forderung
des Gelb oder irgend einer andern Farbe durch Früchte, Blumen u. ſ. w.,
die in dem Gemälde angebracht ſind.

Aber auch da, wo das Auge von der Forderung der vollkommenen
Totalität abſteht, macht es doch immer die Forderung der entſprechenden
Farben geltend. Dieß iſt vorzüglich deutlich in der Erſcheinung der
ſogenannten phyſiologiſchen Farben. Das Auge z. B., welches durch den
Reiz des Rothen ermüdet iſt, producirt, nachdem dieſer Reiz entfernt iſt,
von freien Stücken die grüne Farbe, oder beſtimmter von Blau und Gelb
als Farben das, was denſelben am unmittelbarſten entgegengeſetzt
iſt, die Indifferenz. In dem Farbenbild ſchließen ſich Grün und
Purpur aus. Eben weil beide ſich ausſchließen, fordert ſie das Auge.
Ermüdet durch das Grün fordert das Auge Purpur oder die entſprechende
Totalität von Violett und Roth. Durch Purpur das vollkommenſte Grün.
So auch in der Kunſt. Die Verbindung von Purpur und Grün z. B. in
Gewändern bringt die höchſte Pracht hervor. — Ich ſtelle nun einen
weiteren Satz auf, dem ich nur noch folgendes Allgemeine voranſchicke.

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[516/0192] zugleich durch den Gehörſinn Gefordertes. Daſſelbe iſt der Fall mit dem Geſichtsſinn, deſſen Forderungen das tiefſte Studium des Künſtlers ſeyn müſſen, der auf dieſes zarteſte aller Organe wirken will. Das Auge fordert in allem, was ihm als wohlgefällig dargeboten werden ſoll, die Harmonie der Farben nach derſelben Nothwendigkeit und den- ſelben Geſetzen, nach welchen ſie in der äußeren Erſcheinung producirt wird. Die höchſte Luſt des Auges iſt, indem es aus der ermüdenden Identität geſetzt wird, in der höchſten Differenz doch wieder durch die Totalität in ein vollkommenes Gleichgewicht geſetzt zu werden. Deß- wegen fordert das Auge im Allgemeinen in jedem Gemälde Totalität der Farben, und es bedarf nur geringes Studium und Aufmerkſamkeit, um zu finden, welch ein vollkommenes Gefühl dieſer Forderung die größten Meiſter geleitet hat. Sehr häufig findet man dieſe Forderung in großen Compoſitionen nicht bloß inſofern befriedigt, als die Totalität der Farben zu denſelben nothwendig war; nicht ſelten findet man die Forderung einer Farbe, für welche in dem Hauptgegenſtand kein Grund lag, durch einen Nebengegenſtand befriedigt, z. B. die Forderung des Gelb oder irgend einer andern Farbe durch Früchte, Blumen u. ſ. w., die in dem Gemälde angebracht ſind. Aber auch da, wo das Auge von der Forderung der vollkommenen Totalität abſteht, macht es doch immer die Forderung der entſprechenden Farben geltend. Dieß iſt vorzüglich deutlich in der Erſcheinung der ſogenannten phyſiologiſchen Farben. Das Auge z. B., welches durch den Reiz des Rothen ermüdet iſt, producirt, nachdem dieſer Reiz entfernt iſt, von freien Stücken die grüne Farbe, oder beſtimmter von Blau und Gelb als Farben das, was denſelben am unmittelbarſten entgegengeſetzt iſt, die Indifferenz. In dem Farbenbild ſchließen ſich Grün und Purpur aus. Eben weil beide ſich ausſchließen, fordert ſie das Auge. Ermüdet durch das Grün fordert das Auge Purpur oder die entſprechende Totalität von Violett und Roth. Durch Purpur das vollkommenſte Grün. So auch in der Kunſt. Die Verbindung von Purpur und Grün z. B. in Gewändern bringt die höchſte Pracht hervor. — Ich ſtelle nun einen weiteren Satz auf, dem ich nur noch folgendes Allgemeine voranſchicke.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/192>, abgerufen am 02.05.2024.