Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

sind die Planeten der Kunstwelt, eingeschränkt auf wenige Indivi-
duen, die zugleich Gattungen sind und in der freiesten Bewegung
doch am wenigsten sich von der Identität entfernen. Auch die Planeten-
bilder unter sich haben ihre bestimmten Gattungen. Die tiefsten sind
die rhythmischen, die entfernteren, wo sich die Masse als Totalität bildet,
alles concentrisch, wie die Blätter der Blüthe, in Ringen und Monden
sich um den Mittelpunkt stellt, sind die dramatischen. Den Kometen
gehört der grenzenlose Raum. Wenn sie erscheinen, so kommen sie
unmittelbar aus dem unendlichen Raum, und so sehr sie der Sonne
sich nähern, ebenso weit verlieren sie sich wieder von ihr. Sie sind
gleichsam bloß allgemeine Wesen, weil sie keine Substanz in sich haben;
sie sind nur Luft und Licht, jene aber, die plastischen, symbolischen Ge-
stalten -- durchaus herrschende Individuen, keine Beschränkung durch
Zahl.

Wir können, dieß vorausgesetzt, behaupten, daß bis zu dem in
noch unbestimmbarer Ferne liegenden Punkt, wo der Weltgeist das
große Gedicht, auf das er sinnt, selbst vollendet haben, und das Nach-
einander der modernen Welt sich in ein Zumal verwandelt haben
wird, jeder große Dichter berufen sey, von dieser noch im Werden be-
griffenen (mythologischen) Welt, von der ihm seine Zeit nur einen
Theil offenbaren kann, -- von dieser Welt, sage ich, diesen ihm offen-
baren Theil zu einem Ganzen zu bilden und aus dem Stoff derselben
sich seine Mythologie zu schaffen. So, um dieß an dem Beispiel des
größten Individuums der modernen Welt deutlich zu machen, schuf sich
Dante aus der Barbarei und der noch barbarischeren Gelehrsamkeit
seiner Zeit, aus den Gräueln der Geschichte, die er selbst erlebt hatte,
wie aus dem Stoff der bestehenden Hierarchie, eine eigne Mythologie
und mit dieser sein göttliches Gedicht. Die historischen Personen, welche
Dante aufgenommen hat, werden in aller Zeit für mythologische gelten,
wie Ugolino. Könnte das Andenken der hierarchischen Verfassung je
zu Grunde gehen, man würde es aus dem Bild, das sein Gedicht
davon entwirft, wieder herstellen. -- Auch Shakespeare hat sich
seinen eignen mythologischen Kreis geschaffen, nicht allein aus dem

ſind die Planeten der Kunſtwelt, eingeſchränkt auf wenige Indivi-
duen, die zugleich Gattungen ſind und in der freieſten Bewegung
doch am wenigſten ſich von der Identität entfernen. Auch die Planeten-
bilder unter ſich haben ihre beſtimmten Gattungen. Die tiefſten ſind
die rhythmiſchen, die entfernteren, wo ſich die Maſſe als Totalität bildet,
alles concentriſch, wie die Blätter der Blüthe, in Ringen und Monden
ſich um den Mittelpunkt ſtellt, ſind die dramatiſchen. Den Kometen
gehört der grenzenloſe Raum. Wenn ſie erſcheinen, ſo kommen ſie
unmittelbar aus dem unendlichen Raum, und ſo ſehr ſie der Sonne
ſich nähern, ebenſo weit verlieren ſie ſich wieder von ihr. Sie ſind
gleichſam bloß allgemeine Weſen, weil ſie keine Subſtanz in ſich haben;
ſie ſind nur Luft und Licht, jene aber, die plaſtiſchen, ſymboliſchen Ge-
ſtalten — durchaus herrſchende Individuen, keine Beſchränkung durch
Zahl.

Wir können, dieß vorausgeſetzt, behaupten, daß bis zu dem in
noch unbeſtimmbarer Ferne liegenden Punkt, wo der Weltgeiſt das
große Gedicht, auf das er ſinnt, ſelbſt vollendet haben, und das Nach-
einander der modernen Welt ſich in ein Zumal verwandelt haben
wird, jeder große Dichter berufen ſey, von dieſer noch im Werden be-
griffenen (mythologiſchen) Welt, von der ihm ſeine Zeit nur einen
Theil offenbaren kann, — von dieſer Welt, ſage ich, dieſen ihm offen-
baren Theil zu einem Ganzen zu bilden und aus dem Stoff derſelben
ſich ſeine Mythologie zu ſchaffen. So, um dieß an dem Beiſpiel des
größten Individuums der modernen Welt deutlich zu machen, ſchuf ſich
Dante aus der Barbarei und der noch barbariſcheren Gelehrſamkeit
ſeiner Zeit, aus den Gräueln der Geſchichte, die er ſelbſt erlebt hatte,
wie aus dem Stoff der beſtehenden Hierarchie, eine eigne Mythologie
und mit dieſer ſein göttliches Gedicht. Die hiſtoriſchen Perſonen, welche
Dante aufgenommen hat, werden in aller Zeit für mythologiſche gelten,
wie Ugolino. Könnte das Andenken der hierarchiſchen Verfaſſung je
zu Grunde gehen, man würde es aus dem Bild, das ſein Gedicht
davon entwirft, wieder herſtellen. — Auch Shakeſpeare hat ſich
ſeinen eignen mythologiſchen Kreis geſchaffen, nicht allein aus dem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0121" n="445"/>
&#x017F;ind die Planeten der Kun&#x017F;twelt, einge&#x017F;chränkt auf wenige Indivi-<lb/>
duen, die zugleich Gattungen &#x017F;ind und in der freie&#x017F;ten Bewegung<lb/>
doch am wenig&#x017F;ten &#x017F;ich von der Identität entfernen. Auch die Planeten-<lb/>
bilder unter &#x017F;ich haben ihre be&#x017F;timmten Gattungen. Die tief&#x017F;ten &#x017F;ind<lb/>
die rhythmi&#x017F;chen, die entfernteren, wo &#x017F;ich die Ma&#x017F;&#x017F;e als Totalität bildet,<lb/>
alles concentri&#x017F;ch, wie die Blätter der Blüthe, in Ringen und Monden<lb/>
&#x017F;ich um den Mittelpunkt &#x017F;tellt, &#x017F;ind die dramati&#x017F;chen. Den Kometen<lb/>
gehört der grenzenlo&#x017F;e Raum. Wenn &#x017F;ie er&#x017F;cheinen, &#x017F;o kommen &#x017F;ie<lb/>
unmittelbar aus dem unendlichen Raum, und &#x017F;o &#x017F;ehr &#x017F;ie der Sonne<lb/>
&#x017F;ich nähern, eben&#x017F;o weit verlieren &#x017F;ie &#x017F;ich wieder von ihr. Sie &#x017F;ind<lb/>
gleich&#x017F;am bloß allgemeine We&#x017F;en, weil &#x017F;ie keine Sub&#x017F;tanz in &#x017F;ich haben;<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ind nur Luft und Licht, jene aber, die pla&#x017F;ti&#x017F;chen, &#x017F;ymboli&#x017F;chen Ge-<lb/>
&#x017F;talten &#x2014; durchaus herr&#x017F;chende Individuen, keine Be&#x017F;chränkung durch<lb/>
Zahl.</p><lb/>
            <p>Wir können, dieß vorausge&#x017F;etzt, behaupten, daß bis zu dem in<lb/>
noch unbe&#x017F;timmbarer Ferne liegenden Punkt, wo der Weltgei&#x017F;t das<lb/>
große Gedicht, auf das er &#x017F;innt, &#x017F;elb&#x017F;t vollendet haben, und das Nach-<lb/>
einander der modernen Welt &#x017F;ich in ein <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Zumal</hi></hi> verwandelt haben<lb/>
wird, jeder große Dichter berufen &#x017F;ey, von die&#x017F;er noch im Werden be-<lb/>
griffenen (mythologi&#x017F;chen) Welt, von der ihm <hi rendition="#g">&#x017F;eine</hi> Zeit nur einen<lb/>
Theil offenbaren kann, &#x2014; von die&#x017F;er Welt, &#x017F;age ich, die&#x017F;en ihm offen-<lb/>
baren Theil zu einem Ganzen zu bilden und aus dem Stoff der&#x017F;elben<lb/>
&#x017F;ich <hi rendition="#g">&#x017F;eine</hi> Mythologie zu &#x017F;chaffen. So, um dieß an dem Bei&#x017F;piel des<lb/>
größten Individuums der modernen Welt deutlich zu machen, &#x017F;chuf &#x017F;ich<lb/><hi rendition="#g">Dante</hi> aus der Barbarei und der noch barbari&#x017F;cheren Gelehr&#x017F;amkeit<lb/>
&#x017F;einer Zeit, aus den Gräueln der Ge&#x017F;chichte, die er &#x017F;elb&#x017F;t erlebt hatte,<lb/>
wie aus dem Stoff der be&#x017F;tehenden Hierarchie, eine eigne Mythologie<lb/>
und mit die&#x017F;er &#x017F;ein göttliches Gedicht. Die hi&#x017F;tori&#x017F;chen Per&#x017F;onen, welche<lb/>
Dante aufgenommen hat, werden in aller Zeit für mythologi&#x017F;che gelten,<lb/>
wie Ugolino. Könnte das Andenken der hierarchi&#x017F;chen Verfa&#x017F;&#x017F;ung je<lb/>
zu Grunde gehen, man würde es aus dem Bild, das &#x017F;ein Gedicht<lb/>
davon entwirft, wieder her&#x017F;tellen. &#x2014; Auch <hi rendition="#g">Shake&#x017F;peare</hi> hat &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;einen eignen mythologi&#x017F;chen Kreis ge&#x017F;chaffen, nicht allein aus dem<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[445/0121] ſind die Planeten der Kunſtwelt, eingeſchränkt auf wenige Indivi- duen, die zugleich Gattungen ſind und in der freieſten Bewegung doch am wenigſten ſich von der Identität entfernen. Auch die Planeten- bilder unter ſich haben ihre beſtimmten Gattungen. Die tiefſten ſind die rhythmiſchen, die entfernteren, wo ſich die Maſſe als Totalität bildet, alles concentriſch, wie die Blätter der Blüthe, in Ringen und Monden ſich um den Mittelpunkt ſtellt, ſind die dramatiſchen. Den Kometen gehört der grenzenloſe Raum. Wenn ſie erſcheinen, ſo kommen ſie unmittelbar aus dem unendlichen Raum, und ſo ſehr ſie der Sonne ſich nähern, ebenſo weit verlieren ſie ſich wieder von ihr. Sie ſind gleichſam bloß allgemeine Weſen, weil ſie keine Subſtanz in ſich haben; ſie ſind nur Luft und Licht, jene aber, die plaſtiſchen, ſymboliſchen Ge- ſtalten — durchaus herrſchende Individuen, keine Beſchränkung durch Zahl. Wir können, dieß vorausgeſetzt, behaupten, daß bis zu dem in noch unbeſtimmbarer Ferne liegenden Punkt, wo der Weltgeiſt das große Gedicht, auf das er ſinnt, ſelbſt vollendet haben, und das Nach- einander der modernen Welt ſich in ein Zumal verwandelt haben wird, jeder große Dichter berufen ſey, von dieſer noch im Werden be- griffenen (mythologiſchen) Welt, von der ihm ſeine Zeit nur einen Theil offenbaren kann, — von dieſer Welt, ſage ich, dieſen ihm offen- baren Theil zu einem Ganzen zu bilden und aus dem Stoff derſelben ſich ſeine Mythologie zu ſchaffen. So, um dieß an dem Beiſpiel des größten Individuums der modernen Welt deutlich zu machen, ſchuf ſich Dante aus der Barbarei und der noch barbariſcheren Gelehrſamkeit ſeiner Zeit, aus den Gräueln der Geſchichte, die er ſelbſt erlebt hatte, wie aus dem Stoff der beſtehenden Hierarchie, eine eigne Mythologie und mit dieſer ſein göttliches Gedicht. Die hiſtoriſchen Perſonen, welche Dante aufgenommen hat, werden in aller Zeit für mythologiſche gelten, wie Ugolino. Könnte das Andenken der hierarchiſchen Verfaſſung je zu Grunde gehen, man würde es aus dem Bild, das ſein Gedicht davon entwirft, wieder herſtellen. — Auch Shakeſpeare hat ſich ſeinen eignen mythologiſchen Kreis geſchaffen, nicht allein aus dem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/121
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/121>, abgerufen am 30.04.2024.