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Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855.

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Herr Cralo führte seinen Gast nach seinen Gemächern. Den
Kreuzgang entlang wandelnd, kamen sie an einem Gelaß vorüber, deß
Thüre war offen. An kahler Wand stand eine niedere Säule, von
der in halber Mannshöhe eine Kette niederhing. Ueber dem Portal
war in verblaßten Farben eine Gestalt gemalt, sie hielt in magern
Fingern eine Ruthe. Wen der Herr lieb hat, den züchtigt Er; Er
stäupet einen Jeglichen, den er zum Sohne annimmt (Hebr. XII. 6),
war in großen Buchstaben darunter geschrieben.

Frau Hadwig warf dem Abt einen fragenden Blick zu.

Die Geißelkammer!65) sprach er.

Ist keiner der Brüder zur Zeit einer Strafe verfallen, fragte sie,
es möcht' ein lehrreich Beispiel sein ...

Da zuckte der böse Sindolt mit dem rechten Fuß, als wär' er in
einen Dorn getreten, reckte sein Ohr rückwärts, wie wenn von dort
eine Stimme ihm riefe, sprach: ich komme sogleich, und enteilte in's
Dunkel des Ganges.

Er wußte warum.

Notker der Stammler hatte nach jähriger Arbeit die Abschreibung
eines Psalterbuches vollendet und es mit zierlich feinen Federzeich-
nungen geziert; das hatte der neidige Sindolt nächtlicher Weile zer-
schnitten und die Weinkanne drüber geschüttet. Drob war er zu drei-
maliger Geißelstrafe verdammt, der letzten Vollzug stand noch aus:
er kannte das Oertlein und die Bußwerkzeuge, die ihrem Rang nach
an der Wand hingen, vom neunfältigen "Scorpion" herab bis zur
einfachen "Wespe".

Der Abt drängte, daß sie vorüber kamen. Seine Prunkgemächer
waren mit Blumen geschmückt. Frau Hadwig warf sich in den ein-
fachen Lehnstuhl, auszuruhen vom Wechsel des Erschauten. Sie hatte
in wenig Stunden Viel erlebt. Es war noch eine halbe Stunde zum
Abendimbiß.

Wer zu dieser Frist einen Rundgang durch des Klosters Zellen
gemacht, der hätte sich überzeugen mögen, wie kein einziger Bewohner
des Stiftes unberührt vom Eindruck des vornehmen Besuchs geblieben.
Auch die weltabgeschiedensten Gemüther fühlen, daß einer Frau Hul-
digung gebührt.

Herr Cralo führte ſeinen Gaſt nach ſeinen Gemächern. Den
Kreuzgang entlang wandelnd, kamen ſie an einem Gelaß vorüber, deß
Thüre war offen. An kahler Wand ſtand eine niedere Säule, von
der in halber Mannshöhe eine Kette niederhing. Ueber dem Portal
war in verblaßten Farben eine Geſtalt gemalt, ſie hielt in magern
Fingern eine Ruthe. Wen der Herr lieb hat, den züchtigt Er; Er
ſtäupet einen Jeglichen, den er zum Sohne annimmt (Hebr. XII. 6),
war in großen Buchſtaben darunter geſchrieben.

Frau Hadwig warf dem Abt einen fragenden Blick zu.

Die Geißelkammer!65) ſprach er.

Iſt keiner der Brüder zur Zeit einer Strafe verfallen, fragte ſie,
es möcht' ein lehrreich Beiſpiel ſein ...

Da zuckte der böſe Sindolt mit dem rechten Fuß, als wär' er in
einen Dorn getreten, reckte ſein Ohr rückwärts, wie wenn von dort
eine Stimme ihm riefe, ſprach: ich komme ſogleich, und enteilte in's
Dunkel des Ganges.

Er wußte warum.

Notker der Stammler hatte nach jähriger Arbeit die Abſchreibung
eines Pſalterbuches vollendet und es mit zierlich feinen Federzeich-
nungen geziert; das hatte der neidige Sindolt nächtlicher Weile zer-
ſchnitten und die Weinkanne drüber geſchüttet. Drob war er zu drei-
maliger Geißelſtrafe verdammt, der letzten Vollzug ſtand noch aus:
er kannte das Oertlein und die Bußwerkzeuge, die ihrem Rang nach
an der Wand hingen, vom neunfältigen „Scorpion“ herab bis zur
einfachen „Wespe“.

Der Abt drängte, daß ſie vorüber kamen. Seine Prunkgemächer
waren mit Blumen geſchmückt. Frau Hadwig warf ſich in den ein-
fachen Lehnſtuhl, auszuruhen vom Wechſel des Erſchauten. Sie hatte
in wenig Stunden Viel erlebt. Es war noch eine halbe Stunde zum
Abendimbiß.

Wer zu dieſer Friſt einen Rundgang durch des Kloſters Zellen
gemacht, der hätte ſich überzeugen mögen, wie kein einziger Bewohner
des Stiftes unberührt vom Eindruck des vornehmen Beſuchs geblieben.
Auch die weltabgeſchiedenſten Gemüther fühlen, daß einer Frau Hul-
digung gebührt.

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[43/0065] Herr Cralo führte ſeinen Gaſt nach ſeinen Gemächern. Den Kreuzgang entlang wandelnd, kamen ſie an einem Gelaß vorüber, deß Thüre war offen. An kahler Wand ſtand eine niedere Säule, von der in halber Mannshöhe eine Kette niederhing. Ueber dem Portal war in verblaßten Farben eine Geſtalt gemalt, ſie hielt in magern Fingern eine Ruthe. Wen der Herr lieb hat, den züchtigt Er; Er ſtäupet einen Jeglichen, den er zum Sohne annimmt (Hebr. XII. 6), war in großen Buchſtaben darunter geſchrieben. Frau Hadwig warf dem Abt einen fragenden Blick zu. Die Geißelkammer! ⁶⁵⁾ ſprach er. Iſt keiner der Brüder zur Zeit einer Strafe verfallen, fragte ſie, es möcht' ein lehrreich Beiſpiel ſein ... Da zuckte der böſe Sindolt mit dem rechten Fuß, als wär' er in einen Dorn getreten, reckte ſein Ohr rückwärts, wie wenn von dort eine Stimme ihm riefe, ſprach: ich komme ſogleich, und enteilte in's Dunkel des Ganges. Er wußte warum. Notker der Stammler hatte nach jähriger Arbeit die Abſchreibung eines Pſalterbuches vollendet und es mit zierlich feinen Federzeich- nungen geziert; das hatte der neidige Sindolt nächtlicher Weile zer- ſchnitten und die Weinkanne drüber geſchüttet. Drob war er zu drei- maliger Geißelſtrafe verdammt, der letzten Vollzug ſtand noch aus: er kannte das Oertlein und die Bußwerkzeuge, die ihrem Rang nach an der Wand hingen, vom neunfältigen „Scorpion“ herab bis zur einfachen „Wespe“. Der Abt drängte, daß ſie vorüber kamen. Seine Prunkgemächer waren mit Blumen geſchmückt. Frau Hadwig warf ſich in den ein- fachen Lehnſtuhl, auszuruhen vom Wechſel des Erſchauten. Sie hatte in wenig Stunden Viel erlebt. Es war noch eine halbe Stunde zum Abendimbiß. Wer zu dieſer Friſt einen Rundgang durch des Kloſters Zellen gemacht, der hätte ſich überzeugen mögen, wie kein einziger Bewohner des Stiftes unberührt vom Eindruck des vornehmen Beſuchs geblieben. Auch die weltabgeſchiedenſten Gemüther fühlen, daß einer Frau Hul- digung gebührt.

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Zitationshilfe: Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855/65>, abgerufen am 23.11.2024.