Schaar Tauben war eingezogen, in ungestörter Besitzergreifung hatten sie sich zwischen der Bücherweisheit angesiedelt, auf den Briefen des heiligen Paulus und auf Julius Caesar's gallischem Krieg nisteten sie und schauten verwundert den Eingetretenen entgegen.
Der Thür gegenüber war mit Kohle ein Sprüchlein an die Wand geschrieben: "Martha, Martha, du machst dir um Vielerlei Sorge und Unruh!" las Ekkehard; soll das des Verstorbenen letzter Wille sein? frug er seine liebliche Wegweiserin.
Praxedis lachte: 'S war gar ein behaglicher Herr, sprach sie, der Herr Vincentius selig. Ruhe ist mehr werth als ein Talent Silbers,116) hat er oft gesagt. Die Frau Herzogin aber hat ihm arg zugesetzt, immer gefragt und was Anderes gefragt: heut von den Sternen am Himmel, morgen von Arzneikraut und Heilmitteln, übermorgen aus der heiligen Schrift und Ueberlieferung der Kirche -- wozu habt Ihr studirt, wenn Ihr keinen Bescheid wisset? dräute sie, und Herr Vin- centius hat einen schweren Stand gehabt --
Praxedis deutete schalkhaft mit dem Zeigefinger nach der Stirn --
Mitten im Land Asia, hat er meistens erwiedert, liegt ein schwarzer Marmelstein, wer den aufhebt, der weiß Alles und braucht nicht mehr zu fragen ... Er war aus Baiernland, der Herr Vincentius, den Bibelspruch hat er wohl zu seinem Trost hingeschrieben.
Pflegt die Herzogin so Viel zu fragen? sprach Ekkehard zerstreut.
Ihr werdet's wahrnehmen, sagte Praxedis.
Ekkehard musterte die zurückgebliebenen Bücher. Es thut mir leid um die Tauben, die werden abziehen müssen.
Warum?
Sie haben das ganze erste Buch des gallischen Kriegs verdorben und der Brief an die Corinther ist mit untilgbaren Flecken belastet ..
Ist das ein großer Schaden? frug Praxedis.
Ein sehr großer!
O ihr arme böse Tauben, scherzte die Griechin, kommt her zu mir, eh' der fromme Mann euch hinausjagt unter die Häher und Falken.
Und sie lockte den Vögeln, die unbefangen in der Büchernische verblieben waren, und wie sie nicht kamen, warf sie einen weißen Woll- knäul auf den Tisch, da flog der Tauber herüber, vermeinend es sei
Schaar Tauben war eingezogen, in ungeſtörter Beſitzergreifung hatten ſie ſich zwiſchen der Bücherweisheit angeſiedelt, auf den Briefen des heiligen Paulus und auf Julius Caeſar's galliſchem Krieg niſteten ſie und ſchauten verwundert den Eingetretenen entgegen.
Der Thür gegenüber war mit Kohle ein Sprüchlein an die Wand geſchrieben: „Martha, Martha, du machſt dir um Vielerlei Sorge und Unruh!“ las Ekkehard; ſoll das des Verſtorbenen letzter Wille ſein? frug er ſeine liebliche Wegweiſerin.
Praxedis lachte: 'S war gar ein behaglicher Herr, ſprach ſie, der Herr Vincentius ſelig. Ruhe iſt mehr werth als ein Talent Silbers,116) hat er oft geſagt. Die Frau Herzogin aber hat ihm arg zugeſetzt, immer gefragt und was Anderes gefragt: heut von den Sternen am Himmel, morgen von Arzneikraut und Heilmitteln, übermorgen aus der heiligen Schrift und Ueberlieferung der Kirche — wozu habt Ihr ſtudirt, wenn Ihr keinen Beſcheid wiſſet? dräute ſie, und Herr Vin- centius hat einen ſchweren Stand gehabt —
Praxedis deutete ſchalkhaft mit dem Zeigefinger nach der Stirn —
Mitten im Land Aſia, hat er meiſtens erwiedert, liegt ein ſchwarzer Marmelſtein, wer den aufhebt, der weiß Alles und braucht nicht mehr zu fragen ... Er war aus Baiernland, der Herr Vincentius, den Bibelſpruch hat er wohl zu ſeinem Troſt hingeſchrieben.
Pflegt die Herzogin ſo Viel zu fragen? ſprach Ekkehard zerſtreut.
Ihr werdet's wahrnehmen, ſagte Praxedis.
Ekkehard muſterte die zurückgebliebenen Bücher. Es thut mir leid um die Tauben, die werden abziehen müſſen.
Warum?
Sie haben das ganze erſte Buch des galliſchen Kriegs verdorben und der Brief an die Corinther iſt mit untilgbaren Flecken belaſtet ..
Iſt das ein großer Schaden? frug Praxedis.
Ein ſehr großer!
O ihr arme böſe Tauben, ſcherzte die Griechin, kommt her zu mir, eh' der fromme Mann euch hinausjagt unter die Häher und Falken.
Und ſie lockte den Vögeln, die unbefangen in der Bücherniſche verblieben waren, und wie ſie nicht kamen, warf ſie einen weißen Woll- knäul auf den Tiſch, da flog der Tauber herüber, vermeinend es ſei
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Schaar Tauben war eingezogen, in ungeſtörter Beſitzergreifung hatten
ſie ſich zwiſchen der Bücherweisheit angeſiedelt, auf den Briefen des
heiligen Paulus und auf Julius Caeſar's galliſchem Krieg niſteten ſie
und ſchauten verwundert den Eingetretenen entgegen.
Der Thür gegenüber war mit Kohle ein Sprüchlein an die Wand
geſchrieben: „Martha, Martha, du machſt dir um Vielerlei Sorge
und Unruh!“ las Ekkehard; ſoll das des Verſtorbenen letzter Wille
ſein? frug er ſeine liebliche Wegweiſerin.
Praxedis lachte: 'S war gar ein behaglicher Herr, ſprach ſie, der
Herr Vincentius ſelig. Ruhe iſt mehr werth als ein Talent Silbers,
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hat er oft geſagt. Die Frau Herzogin aber hat ihm arg zugeſetzt,
immer gefragt und was Anderes gefragt: heut von den Sternen am
Himmel, morgen von Arzneikraut und Heilmitteln, übermorgen aus
der heiligen Schrift und Ueberlieferung der Kirche — wozu habt Ihr
ſtudirt, wenn Ihr keinen Beſcheid wiſſet? dräute ſie, und Herr Vin-
centius hat einen ſchweren Stand gehabt —
Praxedis deutete ſchalkhaft mit dem Zeigefinger nach der Stirn —
Mitten im Land Aſia, hat er meiſtens erwiedert, liegt ein ſchwarzer
Marmelſtein, wer den aufhebt, der weiß Alles und braucht nicht mehr
zu fragen ... Er war aus Baiernland, der Herr Vincentius, den
Bibelſpruch hat er wohl zu ſeinem Troſt hingeſchrieben.
Pflegt die Herzogin ſo Viel zu fragen? ſprach Ekkehard zerſtreut.
Ihr werdet's wahrnehmen, ſagte Praxedis.
Ekkehard muſterte die zurückgebliebenen Bücher. Es thut mir leid
um die Tauben, die werden abziehen müſſen.
Warum?
Sie haben das ganze erſte Buch des galliſchen Kriegs verdorben
und der Brief an die Corinther iſt mit untilgbaren Flecken belaſtet ..
Iſt das ein großer Schaden? frug Praxedis.
Ein ſehr großer!
O ihr arme böſe Tauben, ſcherzte die Griechin, kommt her zu
mir, eh' der fromme Mann euch hinausjagt unter die Häher und
Falken.
Und ſie lockte den Vögeln, die unbefangen in der Bücherniſche
verblieben waren, und wie ſie nicht kamen, warf ſie einen weißen Woll-
knäul auf den Tiſch, da flog der Tauber herüber, vermeinend es ſei
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Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855/102>, abgerufen am 24.07.2024.
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