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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

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blick hinaus, und sieht in die Zukunft, um für
dieselbe arbeiten zu können.

Wenn der Liebende mit seiner Geliebten am
Arm durch die Fluren geht, spinnt Hofnung künftiger
Vereinigung, oder Furcht zukünftiger Trennung,
so oft den Faden ihres Gesprächs. -- Was?
und wo? werden wir zehn Jahre weiter hinaus
seyn? ist der Gedanke, welchen oft der Freund
in seinem Vertrauten weckt, mit dem die Phan-
tasie in der Einsamkeit so gern spielt.

Warum arbeitet der Fleiß? warum sammelt
der Geiz? warum eifert die Ehrsucht? --
Für die Zukunft. -- So Mancher versagt
sich aus Nothwendigkeit oder aus Leidenschaft den
gegenwärtigen Genuß, um nur künftig genießen
zu können.

Nur das unmündige Kind und der dem Kin-
de gleiche rohe Wilde empfinden den Trieb nicht,
auf die Zukunft zu sehen. Beyde rührt, wie
das vernunftlose Thier, nur die Gegenwart, weil
in beyden der Verstand noch in den Windeln des
sinnlichen Gefühls liegt, und noch nicht so scharf
sieht, daß er die Verbindung zwischen der Gegen-
wart und Zukunft entdecken könnte.

Wenn die sorgsame Hausmutter aus ihrem
Vorrath so viel verwendet, als sie darf, um
auch morgen und in der folgenden Zeit sich und
ihre Familie zu erhalten; so verzehrt dagegen das

Kind


blick hinaus, und ſieht in die Zukunft, um fuͤr
dieſelbe arbeiten zu koͤnnen.

Wenn der Liebende mit ſeiner Geliebten am
Arm durch die Fluren geht, ſpinnt Hofnung kuͤnftiger
Vereinigung, oder Furcht zukuͤnftiger Trennung,
ſo oft den Faden ihres Geſpraͤchs. — Was?
und wo? werden wir zehn Jahre weiter hinaus
ſeyn? iſt der Gedanke, welchen oft der Freund
in ſeinem Vertrauten weckt, mit dem die Phan-
taſie in der Einſamkeit ſo gern ſpielt.

Warum arbeitet der Fleiß? warum ſammelt
der Geiz? warum eifert die Ehrſucht? —
Fuͤr die Zukunft. — So Mancher verſagt
ſich aus Nothwendigkeit oder aus Leidenſchaft den
gegenwaͤrtigen Genuß, um nur kuͤnftig genießen
zu koͤnnen.

Nur das unmuͤndige Kind und der dem Kin-
de gleiche rohe Wilde empfinden den Trieb nicht,
auf die Zukunft zu ſehen. Beyde ruͤhrt, wie
das vernunftloſe Thier, nur die Gegenwart, weil
in beyden der Verſtand noch in den Windeln des
ſinnlichen Gefuͤhls liegt, und noch nicht ſo ſcharf
ſieht, daß er die Verbindung zwiſchen der Gegen-
wart und Zukunft entdecken koͤnnte.

Wenn die ſorgſame Hausmutter aus ihrem
Vorrath ſo viel verwendet, als ſie darf, um
auch morgen und in der folgenden Zeit ſich und
ihre Familie zu erhalten; ſo verzehrt dagegen das

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[365/0081] blick hinaus, und ſieht in die Zukunft, um fuͤr dieſelbe arbeiten zu koͤnnen. Wenn der Liebende mit ſeiner Geliebten am Arm durch die Fluren geht, ſpinnt Hofnung kuͤnftiger Vereinigung, oder Furcht zukuͤnftiger Trennung, ſo oft den Faden ihres Geſpraͤchs. — Was? und wo? werden wir zehn Jahre weiter hinaus ſeyn? iſt der Gedanke, welchen oft der Freund in ſeinem Vertrauten weckt, mit dem die Phan- taſie in der Einſamkeit ſo gern ſpielt. Warum arbeitet der Fleiß? warum ſammelt der Geiz? warum eifert die Ehrſucht? — Fuͤr die Zukunft. — So Mancher verſagt ſich aus Nothwendigkeit oder aus Leidenſchaft den gegenwaͤrtigen Genuß, um nur kuͤnftig genießen zu koͤnnen. Nur das unmuͤndige Kind und der dem Kin- de gleiche rohe Wilde empfinden den Trieb nicht, auf die Zukunft zu ſehen. Beyde ruͤhrt, wie das vernunftloſe Thier, nur die Gegenwart, weil in beyden der Verſtand noch in den Windeln des ſinnlichen Gefuͤhls liegt, und noch nicht ſo ſcharf ſieht, daß er die Verbindung zwiſchen der Gegen- wart und Zukunft entdecken koͤnnte. Wenn die ſorgſame Hausmutter aus ihrem Vorrath ſo viel verwendet, als ſie darf, um auch morgen und in der folgenden Zeit ſich und ihre Familie zu erhalten; ſo verzehrt dagegen das Kind

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/81>, abgerufen am 28.04.2024.