Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

wird ihm als Tugend angerechnet, da dasselbe
hingegen einen widrigen Eindruck auf uns machen
müßte, wenn es von einem seiner Küchenbedien-
ten
unberechtigterweise geschehen wäre.

Man muß daher, wenn man irgend etwas,
das gut und vortreflich ist, nachahmen will, vor-
her genau berechnen, ob es auch mit den übrigen
Eigenschaften und Beschaffenheiten unsrer indivi-
duellen Natur zusammenpasse; ob es für uns in
dem Grade erreichbar sey, wo es gut und vor-
treflich ist, und ob es nicht in dem Andern blos
deswegen so erscheine, weil er Eigenschaften hat,
die wir nicht haben, in Umständen ist, in welchen
wir uns nicht befinden. Wer bey der Nachah-
mung seine Originalität, oder das, was seine
Natur macht, und sie von Andern unterscheidet,
aufopfert; der hat das hingegeben, was seinem
Charakter Haltung und Gleichgewicht geben sollte,
und ist dem Schiffe zu vergleichen, welches ohne Mast
und Steuerruder auf dem Meere treibt, ein Spiel
der Winde ist, und leicht auf den Strand gerathen,
oder an den Klippen zerschmissen werden kann.

Admodum*), sagt Cicero, tenenda sunt
sua cuique, non vitiosa, sed tamen propria,

quo
*) "Jeder bleibe bey dem, was ihm eigenthümlich, und
nicht an sich fehlerhaft ist. Dies ist das beste Mit-
tel, immer den Anstand zu erhalten. --
Die
Z 4

wird ihm als Tugend angerechnet, da daſſelbe
hingegen einen widrigen Eindruck auf uns machen
muͤßte, wenn es von einem ſeiner Kuͤchenbedien-
ten
unberechtigterweiſe geſchehen waͤre.

Man muß daher, wenn man irgend etwas,
das gut und vortreflich iſt, nachahmen will, vor-
her genau berechnen, ob es auch mit den uͤbrigen
Eigenſchaften und Beſchaffenheiten unſrer indivi-
duellen Natur zuſammenpaſſe; ob es fuͤr uns in
dem Grade erreichbar ſey, wo es gut und vor-
treflich iſt, und ob es nicht in dem Andern blos
deswegen ſo erſcheine, weil er Eigenſchaften hat,
die wir nicht haben, in Umſtaͤnden iſt, in welchen
wir uns nicht befinden. Wer bey der Nachah-
mung ſeine Originalitaͤt, oder das, was ſeine
Natur macht, und ſie von Andern unterſcheidet,
aufopfert; der hat das hingegeben, was ſeinem
Charakter Haltung und Gleichgewicht geben ſollte,
und iſt dem Schiffe zu vergleichen, welches ohne Maſt
und Steuerruder auf dem Meere treibt, ein Spiel
der Winde iſt, und leicht auf den Strand gerathen,
oder an den Klippen zerſchmiſſen werden kann.

Admodum*), ſagt Cicero, tenenda ſunt
ſua cuique, non vitioſa, ſed tamen propria,

quo
*) „Jeder bleibe bey dem, was ihm eigenthuͤmlich, und
nicht an ſich fehlerhaft iſt. Dies iſt das beſte Mit-
tel, immer den Anſtand zu erhalten. —
Die
Z 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0075" n="359"/>
wird ihm als Tugend angerechnet, da da&#x017F;&#x017F;elbe<lb/>
hingegen einen widrigen Eindruck auf uns machen<lb/>
mu&#x0364;ßte, wenn es von einem &#x017F;einer <hi rendition="#b">Ku&#x0364;chenbedien-<lb/>
ten</hi> unberechtigterwei&#x017F;e ge&#x017F;chehen wa&#x0364;re.</p><lb/>
        <p>Man muß daher, wenn man irgend etwas,<lb/>
das gut und vortreflich i&#x017F;t, nachahmen will, vor-<lb/>
her genau berechnen, ob es auch mit den u&#x0364;brigen<lb/>
Eigen&#x017F;chaften und Be&#x017F;chaffenheiten un&#x017F;rer indivi-<lb/>
duellen Natur zu&#x017F;ammenpa&#x017F;&#x017F;e; ob es fu&#x0364;r uns in<lb/>
dem Grade erreichbar &#x017F;ey, wo es gut und vor-<lb/>
treflich i&#x017F;t, und ob es nicht in dem Andern blos<lb/>
deswegen &#x017F;o er&#x017F;cheine, weil er Eigen&#x017F;chaften hat,<lb/>
die wir nicht haben, in Um&#x017F;ta&#x0364;nden i&#x017F;t, in welchen<lb/>
wir uns nicht befinden. Wer bey der Nachah-<lb/>
mung &#x017F;eine Originalita&#x0364;t, oder das, was <hi rendition="#b">&#x017F;eine</hi><lb/>
Natur macht, und &#x017F;ie von Andern unter&#x017F;cheidet,<lb/>
aufopfert; der hat das hingegeben, was &#x017F;einem<lb/>
Charakter Haltung und Gleichgewicht geben &#x017F;ollte,<lb/>
und i&#x017F;t dem Schiffe zu vergleichen, welches ohne Ma&#x017F;t<lb/>
und Steuerruder auf dem Meere treibt, ein Spiel<lb/>
der Winde i&#x017F;t, und leicht auf den Strand gerathen,<lb/>
oder an den Klippen zer&#x017F;chmi&#x017F;&#x017F;en werden kann.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#aq">Admodum</hi><note xml:id="seg2pn_5_1" next="#seg2pn_5_2" place="foot" n="*)">&#x201E;Jeder bleibe bey dem, was ihm eigenthu&#x0364;mlich, und<lb/>
nicht an &#x017F;ich fehlerhaft i&#x017F;t. Dies i&#x017F;t das be&#x017F;te Mit-<lb/>
tel, immer den An&#x017F;tand zu erhalten. &#x2014;<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Die</fw></note>, &#x017F;agt <hi rendition="#b">Cicero</hi>, <hi rendition="#aq">tenenda &#x017F;unt<lb/>
&#x017F;ua cuique, non vitio&#x017F;a, &#x017F;ed tamen propria,</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Z 4</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#aq">quo</hi></fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[359/0075] wird ihm als Tugend angerechnet, da daſſelbe hingegen einen widrigen Eindruck auf uns machen muͤßte, wenn es von einem ſeiner Kuͤchenbedien- ten unberechtigterweiſe geſchehen waͤre. Man muß daher, wenn man irgend etwas, das gut und vortreflich iſt, nachahmen will, vor- her genau berechnen, ob es auch mit den uͤbrigen Eigenſchaften und Beſchaffenheiten unſrer indivi- duellen Natur zuſammenpaſſe; ob es fuͤr uns in dem Grade erreichbar ſey, wo es gut und vor- treflich iſt, und ob es nicht in dem Andern blos deswegen ſo erſcheine, weil er Eigenſchaften hat, die wir nicht haben, in Umſtaͤnden iſt, in welchen wir uns nicht befinden. Wer bey der Nachah- mung ſeine Originalitaͤt, oder das, was ſeine Natur macht, und ſie von Andern unterſcheidet, aufopfert; der hat das hingegeben, was ſeinem Charakter Haltung und Gleichgewicht geben ſollte, und iſt dem Schiffe zu vergleichen, welches ohne Maſt und Steuerruder auf dem Meere treibt, ein Spiel der Winde iſt, und leicht auf den Strand gerathen, oder an den Klippen zerſchmiſſen werden kann. Admodum *), ſagt Cicero, tenenda ſunt ſua cuique, non vitioſa, ſed tamen propria, quo *) „Jeder bleibe bey dem, was ihm eigenthuͤmlich, und nicht an ſich fehlerhaft iſt. Dies iſt das beſte Mit- tel, immer den Anſtand zu erhalten. — Die Z 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/75
Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/75>, abgerufen am 22.11.2024.