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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

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Furcht aus einem unvermuthet drohenden
und schon gegenwärtigem Uebel ist Schreck. Der
sinnliche Eindruck und die sinnlichen Wirkungen
des Schrecks sind stärker, als die jeder andern
Art von Furcht, weil das Unvermuthete, das
Ueberraschende zu keiner Vorbereitung und Ueber-
legung Zeit läßt. Alle Bewegungen des Körpers
sowohl als der Seele werden durch den Schreck
gehemmt oder verwirrt und verkehrt. Der Kör-
per zittert, die Haare streben in die Höhe, das
Blut kehrt gegen das Herz zurück und stockt. Die
Vorstellungen verwirren sich, der Muth sinkt,
Bewußtseyn und Besonnenheit gehen verloren.

Da die Furcht dem Herzen ein der Glückselig-
keit drohendes Uebel zeigt; so ist wohl die natür-
lichste Wirkung derselben, der Wunsch, sich auf
irgend eine Weise den gedroheten Nachtheilen des
vorschwebenden Uebels zu entziehen. Daher
pflegt der Fürchtende seine Aufmerksamkeit auf
dasselbe zu richten, um es kennen zu lernen, und
besonders diejenigen Sinne zu öfnen, durch wel-
che es vor seine Seele tritt. So schielt Damo-
cles ohne Unterlaß auf das über seinem Haupte
hangende Schwerdt; Dionysius öfnet Ohren und
Mund, wenn er ein Geräusch hört, von dem er
fürchtet, daß es durch die Tritte und das Ge-
murmel seiner Mörder verursacht werde, und
wer von der Atmosphäre eines Krankenzimmers

ver-

Furcht aus einem unvermuthet drohenden
und ſchon gegenwaͤrtigem Uebel iſt Schreck. Der
ſinnliche Eindruck und die ſinnlichen Wirkungen
des Schrecks ſind ſtaͤrker, als die jeder andern
Art von Furcht, weil das Unvermuthete, das
Ueberraſchende zu keiner Vorbereitung und Ueber-
legung Zeit laͤßt. Alle Bewegungen des Koͤrpers
ſowohl als der Seele werden durch den Schreck
gehemmt oder verwirrt und verkehrt. Der Koͤr-
per zittert, die Haare ſtreben in die Hoͤhe, das
Blut kehrt gegen das Herz zuruͤck und ſtockt. Die
Vorſtellungen verwirren ſich, der Muth ſinkt,
Bewußtſeyn und Beſonnenheit gehen verloren.

Da die Furcht dem Herzen ein der Gluͤckſelig-
keit drohendes Uebel zeigt; ſo iſt wohl die natuͤr-
lichſte Wirkung derſelben, der Wunſch, ſich auf
irgend eine Weiſe den gedroheten Nachtheilen des
vorſchwebenden Uebels zu entziehen. Daher
pflegt der Fuͤrchtende ſeine Aufmerkſamkeit auf
daſſelbe zu richten, um es kennen zu lernen, und
beſonders diejenigen Sinne zu oͤfnen, durch wel-
che es vor ſeine Seele tritt. So ſchielt Damo-
cles ohne Unterlaß auf das uͤber ſeinem Haupte
hangende Schwerdt; Dionyſius oͤfnet Ohren und
Mund, wenn er ein Geraͤuſch hoͤrt, von dem er
fuͤrchtet, daß es durch die Tritte und das Ge-
murmel ſeiner Moͤrder verurſacht werde, und
wer von der Atmoſphaͤre eines Krankenzimmers

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[612/0328] Furcht aus einem unvermuthet drohenden und ſchon gegenwaͤrtigem Uebel iſt Schreck. Der ſinnliche Eindruck und die ſinnlichen Wirkungen des Schrecks ſind ſtaͤrker, als die jeder andern Art von Furcht, weil das Unvermuthete, das Ueberraſchende zu keiner Vorbereitung und Ueber- legung Zeit laͤßt. Alle Bewegungen des Koͤrpers ſowohl als der Seele werden durch den Schreck gehemmt oder verwirrt und verkehrt. Der Koͤr- per zittert, die Haare ſtreben in die Hoͤhe, das Blut kehrt gegen das Herz zuruͤck und ſtockt. Die Vorſtellungen verwirren ſich, der Muth ſinkt, Bewußtſeyn und Beſonnenheit gehen verloren. Da die Furcht dem Herzen ein der Gluͤckſelig- keit drohendes Uebel zeigt; ſo iſt wohl die natuͤr- lichſte Wirkung derſelben, der Wunſch, ſich auf irgend eine Weiſe den gedroheten Nachtheilen des vorſchwebenden Uebels zu entziehen. Daher pflegt der Fuͤrchtende ſeine Aufmerkſamkeit auf daſſelbe zu richten, um es kennen zu lernen, und beſonders diejenigen Sinne zu oͤfnen, durch wel- che es vor ſeine Seele tritt. So ſchielt Damo- cles ohne Unterlaß auf das uͤber ſeinem Haupte hangende Schwerdt; Dionyſius oͤfnet Ohren und Mund, wenn er ein Geraͤuſch hoͤrt, von dem er fuͤrchtet, daß es durch die Tritte und das Ge- murmel ſeiner Moͤrder verurſacht werde, und wer von der Atmoſphaͤre eines Krankenzimmers ver-

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 612. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/328>, abgerufen am 22.11.2024.