dem Mangel der Liebe zwischen Eltern und Kin- dern u. v. m. erzählt hat, fährt er fort: "So wenig ist das Herz des Wilden der Empfindungen fähig, die die Menschen zu jener liebreichen Sorg- falt bewegen, welche Kummer und Leiden versüßt, daß die Spanier selbst in einigen amerikanischen Ländern genöthigt gewesen sind, die gemeinen Pflichten der Menschlichkeit durch ausdrückliche Gesetze einzuschärfen, und Ehemänner und Ehe- weiber, Eltern und Kinder unter schweren Stra- fen zu verpflichten, während ihrer Krankheiten einander beyzustehen und zu verpflegen*).
Wenn man auch kein Mißtrauen in die Er- zählungen der Spanier setzen müßte, die gewiß, um ihre unmenschliche Grausamkeit zu beschöni- gen, alles aufsuchten und erdichteten, um die Ame- rikaner so schlecht, als möglich, zu schildern; so darf man doch nicht sogleich, nach jenen Erzäh- lungen, sie des Mangels des Mitgefühls beschul- digen. Freylich kann man von rohen und unge- bildeten Menschen nicht die feinern Gefühle der Gebildeten fordern: freylich sind ihre Leidenschaften, wenn sie gereizt werden, roh und barbarisch; und Gewohnheit, Aberglaube und Vorurtheil verder- ben die Anlagen der Natur; aber man beobachte sie nur, wenn sie aus sich selbst, von keiner auf-
brin-
*) Roberts. Geschichte v. Amerika, übers. von Schiller. 1. Th. S. 472 f.
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dem Mangel der Liebe zwiſchen Eltern und Kin- dern u. v. m. erzaͤhlt hat, faͤhrt er fort: „So wenig iſt das Herz des Wilden der Empfindungen faͤhig, die die Menſchen zu jener liebreichen Sorg- falt bewegen, welche Kummer und Leiden verſuͤßt, daß die Spanier ſelbſt in einigen amerikaniſchen Laͤndern genoͤthigt geweſen ſind, die gemeinen Pflichten der Menſchlichkeit durch ausdruͤckliche Geſetze einzuſchaͤrfen, und Ehemaͤnner und Ehe- weiber, Eltern und Kinder unter ſchweren Stra- fen zu verpflichten, waͤhrend ihrer Krankheiten einander beyzuſtehen und zu verpflegen*).
Wenn man auch kein Mißtrauen in die Er- zaͤhlungen der Spanier ſetzen muͤßte, die gewiß, um ihre unmenſchliche Grauſamkeit zu beſchoͤni- gen, alles aufſuchten und erdichteten, um die Ame- rikaner ſo ſchlecht, als moͤglich, zu ſchildern; ſo darf man doch nicht ſogleich, nach jenen Erzaͤh- lungen, ſie des Mangels des Mitgefuͤhls beſchul- digen. Freylich kann man von rohen und unge- bildeten Menſchen nicht die feinern Gefuͤhle der Gebildeten fordern: freylich ſind ihre Leidenſchaften, wenn ſie gereizt werden, roh und barbariſch; und Gewohnheit, Aberglaube und Vorurtheil verder- ben die Anlagen der Natur; aber man beobachte ſie nur, wenn ſie aus ſich ſelbſt, von keiner auf-
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*) Robertſ. Geſchichte v. Amerika, uͤberſ. von Schiller. 1. Th. S. 472 f.
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dem Mangel der Liebe zwiſchen Eltern und Kin-
dern u. v. m. erzaͤhlt hat, faͤhrt er fort: „So
wenig iſt das Herz des Wilden der Empfindungen
faͤhig, die die Menſchen zu jener liebreichen Sorg-
falt bewegen, welche Kummer und Leiden verſuͤßt,
daß die Spanier ſelbſt in einigen amerikaniſchen
Laͤndern genoͤthigt geweſen ſind, die gemeinen
Pflichten der Menſchlichkeit durch ausdruͤckliche
Geſetze einzuſchaͤrfen, und Ehemaͤnner und Ehe-
weiber, Eltern und Kinder unter ſchweren Stra-
fen zu verpflichten, waͤhrend ihrer Krankheiten
einander beyzuſtehen und zu verpflegen *).
Wenn man auch kein Mißtrauen in die Er-
zaͤhlungen der Spanier ſetzen muͤßte, die gewiß,
um ihre unmenſchliche Grauſamkeit zu beſchoͤni-
gen, alles aufſuchten und erdichteten, um die Ame-
rikaner ſo ſchlecht, als moͤglich, zu ſchildern; ſo
darf man doch nicht ſogleich, nach jenen Erzaͤh-
lungen, ſie des Mangels des Mitgefuͤhls beſchul-
digen. Freylich kann man von rohen und unge-
bildeten Menſchen nicht die feinern Gefuͤhle der
Gebildeten fordern: freylich ſind ihre Leidenſchaften,
wenn ſie gereizt werden, roh und barbariſch; und
Gewohnheit, Aberglaube und Vorurtheil verder-
ben die Anlagen der Natur; aber man beobachte
ſie nur, wenn ſie aus ſich ſelbſt, von keiner auf-
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*) Robertſ. Geſchichte v. Amerika, uͤberſ. von Schiller.
1. Th. S. 472 f.
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 531. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/247>, abgerufen am 23.11.2024.
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